Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
zur Seite, Familienmitglieder und andere Gäste, die nicht zum engsten Kreis des Consiglio gehörten und deren Anwesenheit nicht mehr zwingend geboten war. Lachen und fröhliche Rufe mischten sich in das Glockengeläut. In den Palazzi entlang des Canalezzo warteten intimere und amüsantere Vergnügungen auf den Adel als die endlose Liturgie einer Messe zu Ehren eines unbedeutenden Ausländers.
Der Häftling in dem vom Campanile baumelnden Käfig brüllte, was das Zeug hielt, und als etwas herabgeflogen kam und einem in schreiend gelben Samt gekleideten Patrizier in unmittelbarer Nähe des Dogen aufs Haupt klatschte, wandten sich aller Augen nach oben. Die spitzen Aufschreie und der Gestank ließen sofort zur Gewissheit werden, was Lorenzo bereits beim ersten Anblick des Wurfgeschosses vermutet hatte: Der arme Teufel hatte seine Fäkalien nach unten geschleudert.
Der Patrizier wischte sich schimpfend die braunen Spuren von den Schultern und schleuderte sein ruiniertes Barett auf das Pflaster. Ein Leibdiener reichte dem Dogen ein spitzenverziertes Handtuch, das dieser an seine Knollennase presste und angewidert einen Schritt zur Seite trat. Mit der freien Hand machte er eine wedelnde Geste in Richtung Glockenturm, was die Wachleute, die dem Prunkzug gefolgt waren, sofort zum Anlass nahmen, loszustürzen und den immer noch lamentierenden Übeltäter kaltzustellen. Zwei der mit Spießen und Schwertern bewaffneten Helmträger liefen zum Eingang des Campanile, und wenig später wurde der Käfig zur Aussichtsplattform hochgezogen. Die Menge starrte gebannt nach oben, um sich nichts von dem zu erwartenden Schauspiel entgehen zu lassen.
Auf ein weiteres Zeichen des Dogen ließen die Spielleute wieder ihre Trompeten, Schellen und Klappern ertönen, doch das Interesse der Zuschauer galt dem Käfiginsassen, vermutlich ein Ehebrecher oder ein Sodomit und damit einer jener Missetäter, die traditionell auf diese Weise für ihr begangenes Unrecht in aller Öffentlichkeit büßen mussten, ohne Wasser, ohne Nahrung, den spöttischen Blicken der ganzen Stadt preisgegeben.
Lorenzo schob sich durch die Menge in Richtung Brücke. Im Hintergrund sah er Rufio warten. Er stand auf einem der Holzstege und harrte stoisch aus, bis die Familie so weit wäre, in die Gondel zu steigen und von ihm zum heimischen Palazzo gerudert zu werden.
Seine Mutter trat ihm in den Weg.
»Ich habe sie gesehen«, sagte sie mit schwankender Stimme. Sie streckte die Hand aus, um ihn festzuhalten. »Sie war da, aber jetzt ist sie weg. Sie … hat sich überhaupt nicht verändert. Wie früher … Wie immer … Dieses Haar … Sie trug einen Schleier, aber ich konnte genug davon sehen.«
Ratlos blickte Lorenzo über ihre Schulter. Sein Blick fiel auf seinen Vater und seinen Onkel, beide schauten ihn an, sein Vater bleich und mit ernster Miene, die Lippen zu einem scharfen Strich zusammengepresst, und sein Onkel verstört und mit offenem Entsetzen in den Augen.
Lorenzo fühlte, wie sein Herzschlag sich verlangsamte und wie ihm das Blut in den Ohren rauschte. Er hatte einen Fehler begangen, doch er hatte keine Ahnung, welchen. Der Gedanke, Sanchia heute an seine Familie heranzuführen und damit zugleich die Basis für ihre baldige Hochzeit herzustellen, war ihm vorhin noch so plausibel erschienen. Eleonora mochte ihren Dispens mit seiner Hilfe bekommen, um sich gleich darauf ihrem Spiegelmacher zuzuwenden, und an ihre Stelle wäre wiederum Sanchia getreten.
Alles ganz einfach. Und doch so falsch.
»Mutter?« Er schaute sie fragend an.
Caterina brach in Tränen aus. Francesco trat an ihre Seite und nahm sie tröstend in die Arme. »Nicht. Caterina, nicht.«
Giovanni stand daneben, mit hängenden Schultern und starren Augen.
»Vater?«
Giovanni blickte ihn an, lange und unergründlich, dann wandte er sich ruckartig um und ging davon, mit steifen Schritten und durchgedrücktem Kreuz.
Francesco blickte ihm düster hinterher.
Lorenzo ballte die Fäuste. »Sagt mir, was geschehen ist! Ich will die Wahrheit wissen!«
Francesco schaute nach oben, wo der Käfig sacht in der Sonne schwankte. Er war leer. Die Bewaffneten traten durch die Pforte des Campanile ins Freie. Ihre Speere hatten sie weggelegt und schleppten stattdessen gemeinsam den leblosen Körper des Sträflings davon. Sein Kopf baumelte schlaff hin und her, und seine Augen standen blicklos offen.
»Die Wahrheit, mein Junge, hat viele Gesichter. Und manche davon, glaub mir, möchte niemand von
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