Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
uns kennen.«
In der Stunde nach der Komplet ging Sanchia zur Hauptpforte. Sie hatte sich geschworen, es nicht zu tun, doch sie wusste, dass sie keinen Schlaf finden würde, wenn sie sich nicht vergewisserte, ob er gekommen war.
Die Dunkelheit hatte sich bereits vor einer Weile über den Klosterhof gesenkt und bildete vor der Mauer und dem Torhäuschen violette Schatten, aus denen eine massive Gestalt aufragte. Girolamo blickte ihr unverwandt entgegen.
Sanchia blieb vor ihm stehen und verschränkte unruhig die Hände um ihren Anhänger. »War er da?«
Girolamo hob zwei Finger. Zwei Mal . Eine weitere Bewegung: Beide Male hatte der Torwächter den Besucher weggeschickt. So wie sie es ihm befohlen hatte.
»Was hat er gesagt?«
Er vollführte eine rasche Folge von Handbewegungen. Ein kurzes Flattern am Schluss, eine Geste zum Dach des Refektoriums hin.
Er würde ihr über die Tauben eine Botschaft schicken.
Girolamo blickte sie fragend an. Seine Lippen formten das Wort Warum . Es war das erste Mal, dass er sie nach dem Grund für ihr Handeln fragte.
»Du kennst doch die Geschichte. Du warst dabei, als Pasquale sie erzählt hat, damals auf dem Boot, als du mich und Eleonora nach Murano gebracht hast und er mit zurückkam. Was hätten wir heute tun sollen außer weglaufen? Wie hätte ich seiner Mutter gegenübertreten können?«
Girolamo neigte zweifelnd den Kopf zur Seite und hob die Hände zu einer Geste, die sie nicht nachvollziehen konnte. Er wiederholte sie, bis sie begriff.
»Du meinst, ich hätte nur einen Grund gesucht, weil ich einen brauchte. Dass ich auch weglaufen würde, wenn er nicht vorhätte, mich mit seiner Familie zu konfrontieren.«
Er nickte.
Sanchia starrte auf ihre Fußspitzen. Die Zòccoli waren verschrammt und mit Dreck beschmiert. Auf ihrer Flucht war sie mehrfach durch Unrat und schlammige Pfützen getrampelt, und sie hatte bis jetzt noch keine Gelegenheit gefunden, ihre Schuhe zu reinigen.
»Ich weiß nicht, ob das so ist, aber der Gedanke ruft Schuldbewusstsein in mir hervor, also muss das, was du sagst, einen wahren Kern haben.« Diese Schlussfolgerung entsprang nicht ihrem angelesenen Wissen in philosophischer Logik, sondern gesunder Selbsterkenntnis.
Sanchia schluckte und schaute Girolamo hilflos an. »Ich liebe ihn so. Er füllt mein ganzes Sein aus. Wenn ich ihn sehe, ihn berühre – er ist mein Leben. Meine Seele und mein Leib, beides brennt nach ihm, in einem Hunger, der niemals endet. Ich verstehe mich selbst nicht. Warum habe ich solche Angst davor, bei ihm zu sein?«
Girolamo streckte eine Hand aus und berührte ihr Haar. Das hatte er noch nie vorher getan. Manchmal hielt er sie stützend beim Arm, wenn sie aus der Gondel stieg, oder er hob sie bei niedrigem Wasserstand von der Fondamenta ins Boot. Aber noch nie hatte er ihr Haar angefasst.
Sanchia ließ es überrascht geschehen und registrierte trotz der zunehmenden Dunkelheit sein angestrengtes Stirnrunzeln, während seine klobigen Finger mit der Sanftheit eines Sonnenstrahls über ihren Kopf glitten. In seinen Augen stand ein seltsamer Ausdruck, leise Trauer, gepaart mit Resignation, wie der schwache Nachhall eines Schmerzes über einen schon fast vergessen geglaubten Verlust.
Seine Blicke wurden eindringlicher, während er die freie Hand in einer langsamen Bewegung durch die Luft führte, zu seinem Herzen, um sie gleich darauf ruckartig wieder fortzureißen und dann das Gesicht zu einem stummen Schrei zu verziehen.
Sanchia verstand sofort. Er hatte Recht. Sie war geprägt von den Verlusten in ihrer Vergangenheit. Die Menschen, die sie zu sehr geliebt hatte, waren ihr genommen worden.
Girolamo ließ die Hand sinken und fasste sich an die Schulter, das Gesicht müde zur Seite gewandt.
Sanchia griff, ohne zu zögern, an die Stelle, die er betastet hatte, und als er mit einem leisen Stöhnen zusammenfuhr, wusste sie, dass er unter unerträglichen Schmerzen litt.
»Komm.« Sie fasste nach seiner Hand und zog ihn in das Torhüterhäuschen. Die Bedingungen, unter denen er hier hauste, waren primitiv, aber sie zeugten von deutlich mehr Sinn für Kultur als die Einrichtung der Kammer hinter den Stallungen, in der Moses inmitten von frei herumlaufenden Ziegen sowie Futtersäcken und Dunghaufen sein Quartier unterhielt.
Das Häuschen wies grob gemauerte Wände auf, mit einem Kaminofen, der im Winter die ärgste Kälte abhielt und über das ganze Jahr hinweg mit allerlei Relikten aus den Schlachten beladen war, an
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