Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
Ruderern trieben den Bucintoro voran, und das Schiff mitsamt den zahlreichen Booten voller Fahnenschwenker, Kreuzträger und Trompeter näherte sich der Anlegestelle.
Der Himmel über den Kuppeln und den spitzen Türmchen der Basilika war wolkenlos blau, ein Farbton, der gemeinsam mit dem weißrosa Rautenmuster und den spitzenartig durchbrochenen Arkaden an der Fassade des Dogenpalastes den Markusplatz wie eine pastellfarbene Märchenkulisse leuchten ließ. Die Sonne hatte auch an diesem Oktobertag trotz der verregneten Morgenstunden noch genug Kraft, die Lagune mit angenehmer Wärme zu erfüllen. Die Masten der am Kai vertäuten Boote warfen schwankende Schlagschatten auf das Pflaster und die Menschen, die dort standen, um den mit goldenen Schnitzereien, purpurrotem Samt und Seidentüchern geschmückten Bucintoro einlaufen zu sehen. Andere richteten ihre Aufmerksamkeit nach oben: Am Campanile hing auf halber Höhe ein Käfig, in dem ein Häftling mit wütendem Gebrüll an den Stäben rüttelte. Lange konnte er noch nicht dort oben sitzen, denn wäre er bereits richtig ausgehungert gewesen, hätte er kaum mehr getan, als apathisch dazuhocken und das Ende der Tortur abzuwarten.
Lorenzo hielt den Atem an, denn jetzt konnte er Sanchia deutlich erkennen. Sie und Eleonora standen an der vereinbarten Stelle. Die Sehnsucht durchfuhr ihn mit der Macht eines Schwertes, und er wartete ungeduldig auf den Augenblick, in welchem der Bucintoro endlich anlegte.
In einer genau festgelegten Rangfolge verließen die Würdenträger das Schiff über eine hölzerne Brücke, die vom Ausstieg zu der großen Plattform am Kai vor dem Dogenpalast geschlagen wurde. Die Musiker der Begleitboote empfingen den Tross mit Fanfarenstößen, und als der mürrisch aussehende Doge, unmittelbar gefolgt von seinem rituellen Schwertträger, mit langsamen Schritten an Land ging, brach die Menge, die sich auf der Piazetta und entlang der Riva degli Schiavoni versammelt hatte, in verhaltenen Jubel aus.
Lorenzo, der als einer der letzten Ehrengäste über die knarrende Brücke ging, wurde hart von hinten angestoßen. Er verlor das Gleichgewicht und hätte dabei fast seine Mutter umgestoßen, die sich verärgert umschaute. »Was …?« Im nächsten Moment stockte sie und eilte mit geröteten Wangen weiter.
Lorenzo wandte sich um und fand sich Auge in Auge mit Enrico Grimani wieder.
»Sieh an, was für ein Tölpel«, höhnte Enrico. »Wirft beinahe seine eigene Mutter vom Schiff! Die bezaubernde Caterina!«
Lorenzo konnte nicht verhindern, dass seine Linke wie aus eigenem Antrieb zu seiner Messerscheide zuckte. Enrico sah es und grinste breit. »Mach nur. Ich werde vor deinem Gefängnis tanzen und singen und dir von draußen ins Gesicht pissen.«
»Nicht!«, rief Caterina leise von der Fondamenta herüber. »Komm, Lorenzo!«
Enrico kniff ein Auge zu und bedachte sie mit einem schlüpfrigen Lächeln, das Lorenzo ihm nur zu gern aus dem Gesicht geschlagen hätte.
Stattdessen drehte er sich einfach um und ließ Enrico stehen. Sein Verlangen, dem Kerl Manieren beizubringen, war immer noch übermächtig, und mit einem Mal verstand er genau, was sein Vater gemeint hatte. Es galt, den richtigen Zeitpunkt abzuwarten, in der Politik wie im Leben.
Caterina wartete mit hochroten Wangen auf ihn, die Hände in die Falten ihres Überwurfs gekrampft. »Was hat er gesagt?«
»Er hat die üblichen Schmähreden geführt.«
»Achte nicht auf ihn«, meinte sie in ängstlichem Tonfall, während sie sich nach ihrem Mann und ihrem Schwager umschaute. Beide waren bereits einige Schritte weitergegangen und unterhielten sich mit einem Gefolgsmann des spanischen Gesandten, zu dessen Ehren das heutige Zeremoniell abgehalten wurde.
»Keine Sorge.« Lorenzo reckte sich, um einen besseren Überblick zu gewinnen. Sanchia und Eleonora hatten bei der Brücke über dem Rio di Palazzo auf ihn warten wollen. Dort drüben stand der die Umstehenden überragende Torwächter des Klosters, Girolamo, folglich konnten die beiden jungen Frauen nicht weit sein. Der stumme Riese bedachte Lorenzo mit einem kurzen, undeutbaren Blick, dann wandte er sich ab und verschwand mit raschen Schritten im Gedränge der Schaulustigen.
Der zeremoniell gegliederte Geleitzug des Dogen bewegte sich zu den hallenden Klängen der Kirchenglocken in majestätischer Prozession auf das Hauptportal der Basilika zu, um gemeinsam mit dem Volk die Heilige Messe zu feiern. Einige der Teilnehmer traten jedoch bereits
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