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Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)

Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Thomas
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erwarten, nachdem die führenden Ratsmitglieder selbst den Zorn des Volkes voller Berechnung entfesselt hatten.
    In den folgenden Tagen wurde allerdings die Ordnung zügig wiederhergestellt, indem der Rat Ausrufer durch die Straßen schickte und den nahenden Einmarsch der Franzosen verkünden ließ. Das brachte auch die wütendsten Rädelsführer aus dem Elendsviertel fürs Erste zum Verstummen. Die Aggressionen der Männer wurden in sachgerechte Bahnen gelenkt. Die Stadtverwaltung bildete eine Bürgerwehr und stellte Söldnertruppen zusammen, damit Florenz angesichts der näherkommenden Kriegsgefahr nicht ungerüstet blieb. Die anrückenden Truppen lagen inzwischen bei Empoli, hieß es. Bis sie die Stadtmauern erreichten, konnte es nur noch Tage dauern.
    Der Bußprediger, der wie vor ihm Piero de’ Medici ebenfalls mit einer Abordnung zum König aufgebrochen war, um ihn zum Einlenken zu bewegen, schaffte es genauso wenig wie sein Vorgänger, Karl von seinen Plänen abzubringen, in die Stadt einzumarschieren. Dennoch brachte Savonarola nach seiner Rückkehr das Kunststück fertig, sich für seinen Einsatz als Unterhändler feiern zu lassen, als wäre er der größte Friedensstifter Italiens.
    »Dieser fanatische Emporkömmling«, sagte Giulia abfällig. »Er wird Florenz noch ins Unglück stürzen, ihr werdet sehen!«
    Sanchia und Eleonora wären die Letzten gewesen, diese Prognose infrage zu stellen. Schon allein der Umstand, dass Savonarola die gleiche Kutte trug wie Ambrosio, ließ ihn als Erzfeind erscheinen, auch wenn dies aus objektiver Sicht ungerechtfertigt war. Sanchia versuchte hin und wieder, sich selbst davon zu überzeugen, dass der Bußprediger im Gegensatz zu Ambrosio nichts Böses tat, sondern nur seinem starken Glauben folgte. Er verachtete die Völlerei und strebte ein Staatsgebilde an, in dem die Menschen Gott dienten, statt sich zu bereichern und dem Laster zu frönen. Alles in allem ehrbare Pläne, wie jeder Gerechte zugeben musste, der von Korruption, Ämterkauf und mörderischen Steuern die Nase voll hatte.
    Doch nach einigen inneren Zwiegesprächen dieser Art kam Sanchia dahinter, dass es im Grunde bei Ambrosio auch nicht so viel anders war. Auch er handelte aus seinem Glauben heraus und wollte ein gottgefälligeres Leben für alle; vermutlich hatte er sogar Albiera aus der sicheren Überzeugung heraus getötet, in ihr den leibhaftigen Teufel zu vernichten.
    Was Sanchia sogleich zu der Frage führte, ob das Böse weniger böse war, wenn es dem Glauben oder einer geistigen Störung entsprang. Mit diesem Rätsel beschäftigte sie sich eine Weile, während sie wie gewohnt ihrer Arbeit nachging. Sie entband Frauen von ihren Kindern und richtete Knochenbrüche und dachte unterdessen über die Aspekte von Gut und Böse nach. Sie gab sich Mühe, der Lösung näherzukommen, indem sie zunächst versuchte, zu abstrahieren und dann, als sie nicht weiterkam, anhand praktischer Beispiele der Sache auf den Grund zu gehen.
    »Wer bestimmt, was gut und was böse ist?«, fragte sie Giulia.
    »Warum fragst du ausgerechnet mich das?«, kam sofort die Gegenfrage.
    »Weil du einen wachen Verstand hast.« Sanchia dachte kurz nach und fügte dann hinzu: »Und weil du nicht gleich die typische Antwort auf solche Fragen gibst.«
    »Welches wäre denn hier die typische Antwort?«
    »Gott.«
    Giulia lachte. »Nun denn. Ich.«
    »Wie bitte?«
    » Ich bestimme, was gut und was böse ist. Finde ich etwas böse, so ist es das auch. Und was mir gut erscheint, das ist dann eben gut.«
    Diese Antwort war ausgezeichnet. Sanchia bedankte sich höflich und wandte sich grübelnd ab. Natürlich, dachte sie. Giulia hatte Recht. Das Maß aller Dinge ist immer der Mensch. Der Mensch, dem Gutes oder Böses widerfährt. Er steht im Mittelpunkt, genau wie Pico della Mirandola, der große Philosoph dieser Stadt, es in seinen Werken ausgeführt hatte. Der Mensch konnte sich zu göttlichem Sein entwickeln oder aber zum Tier entarten. Was er wählte, unterstand allein seinem Willen. Der Mensch entschied, was gut oder böse war! Aber was, wenn ein Mensch krank oder nicht einsichtsfähig war? Wie konnte er dann beurteilen, ob eine Handlung gut oder böse war? Musste es nicht doch eine allgemein gültige Definition von Gut und Böse geben? Eine übergeordnete Gesetzmäßigkeit, die nicht auf Papier geschrieben stand, sondern schlechthin dem Wesen und der Art des Menschseins gemäß war? Und wie ließe es sich umsetzen, als eine Art sittliches

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