Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
Regularium für alle?
»Führst du mit Marco eigentlich auch solche Gespräche?«, rief Giulia ihr nach.
Sanchia wurde gewahr, dass sie den größten Teil ihrer Gedanken vor sich hin gemurmelt hatte. Sie blieb in der offenen Haustür stehen. »Ach nein, keine Sorge. Er ist doch noch so klein.«
»Was war das denn neulich für ein Kram über die Möglichkeit, Schönheit zu messen?«, fragte Giulia argwöhnisch.
»Oh, das ist nichts Schlimmes.«
»Vergiss nicht, was schlimm ist, bestimme ich.«
»Wirklich, Giulia, es war ganz harmlos. Dein Sohn ist so klug und aufgeweckt und findet es wunderbar, neue, interessante Dinge zu erfahren.«
»Und was ist daran so wunderbar, Schönheit messen zu können?« Giulia runzelte die Stirn, bis ihre Brauen beinahe zusammenstießen. »Wie, zum Teufel, soll das überhaupt gehen? Kannst du messen, ob du schöner bist als ich?«
Das wäre in der Tat möglich gewesen, doch Sanchia war keineswegs sicher, was für ein Ergebnis dabei herausgekommen wäre.
»Giulia, es geht um eine Art Mathematik, nichts weiter. Es sind Berechnungen, die ich angestellt habe, aber die Idee stammt nicht von mir, sondern von Pacioli und von da Vinci. Ich habe sie nur ein wenig abgeändert und untersuche die Ergebnisse.«
»Da Vinci? Kommt mir bekannt vor. Wer ist der Kerl? War er schon mal hier?«
Sanchia seufzte und schüttelte den Kopf. »Er stammt aus der Gegend, aber soweit ich weiß, arbeitet er im Moment nicht in der Stadt. Er ist ein Künstler wie Michelangelo Buonarroti, nur um einiges älter.«
Giulia schien besänftigt. »Du hättest dich übrigens gut mit Buonarroti unterhalten können. Wusstest du, dass er in der Totenkammer von Santo Spirito Leichen aufschneidet, weil er wissen will, wie sie innen aussehen?«
Damit hatte sie sofort Sanchias gesamte Aufmerksamkeit. »Wirklich? Wie hat er das angestellt? Wie ist er an die Erlaubnis gekommen?«
»Er hat es natürlich heimlich gemacht, was dachtest du denn?«
Sanchia seufzte. »Ich wünschte, ich könnte mal mitgehen und zuschauen!«
Giulia rümpfte die Nase. »Sanchia, du bist unmöglich. Du bist so … anders!«
Sanchia hob abwehrend das Kinn. Schon wieder dasselbe. Sie würde wohl nie lernen, es zu verbergen. »Manche Dinge sucht man sich nicht aus.«
Giulia musterte sie abwägend. »Meinst du, Marco ist alt genug, um schon lesen zu lernen?«
»Ich weiß nicht. Er ist nicht mal vier Jahre alt. Aber … doch, er könnte es. Er kann ja auch schon rechnen wie andere Kinder, die dreimal so alt sind. Er ist unglaublich begabt.«
Giulia lächelte zögernd. »Es wäre schön, wenn du es ihm beibringen könntest.«
Wie sich bald herausstellte, bedeutete es für Sanchia keinerlei Mühe, Marco zu unterrichten. Sie nahm sich einfach an den Nachmittagen eine oder zwei Stunden Zeit und kümmerte sich um den Kleinen. Meist lernten sie in der Küche, weil das der wärmste Raum im Haus war, außerdem liebte Eleonora es, den Kleinen und Sanchia bei der Arbeit um sich zu haben.
Eleonora hatte auch die glorreiche Idee, Plätzchen in Form von Buchstaben und Zahlen zu backen, die er aufessen durfte, wenn er ein Wort oder eine Zahl damit legen konnte. Nach ein paar Tagen war diese Methode allerdings so erfolgreich, dass sie schnell wieder davon abkamen – der Kleine konnte keine Plätzchen mehr sehen, weil er sich bis zum Überdruss daran satt gegessen hatte.
Sanchia ging dazu über, ihn auf eine Schiefertafel malen zu lassen. Seine Hand mit dem Griffel fuhrwerkte anfangs ungelenk, dann mit wachsendem Geschick auf der polierten Fläche umher, und binnen Tagen konnte er ihrer aller Namen schreiben und einfache Wörter entziffern, die Sanchia ihm vorgab. Sie war von seinen Fortschritten begeistert – und ganz und gar hingerissen von seiner kleinen Person. Ihr Inneres zerfloss förmlich vor Zuneigung, wenn sie ihn nur anschaute. Anfangs mochte es vielleicht daran gelegen haben, dass er wie eine Miniaturausgabe seines Vaters aussah, aber nach und nach schien er sich unter ihren wachsamen Augen zu einer eigenständigen Persönlichkeit zu entwickeln. Er war störrisch und klug, liebevoll und verschmitzt, arglos und fröhlich – er war all das und noch viel mehr. Er war ein wundervolles Kind, und wenn sie je einen Sohn haben würde, müsste er so sein wie Marco. Sie versuchte, nicht neidisch zu sein und dem Schicksal nicht zu grollen, weil nicht ihr, sondern Giulia das Wunder zuteil geworden war, die Mutter von Lorenzos Kind zu werden. Dennoch fiel
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