Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
es ihr schwer, sich damit abzufinden, dass eine andere Frau ihm diesen Sohn geboren hatte. Der Junge hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits zu tief in ihr Herz geschlichen. Die Brust wurde ihr weit, wenn er neben ihr saß und sie seinen sauberen, kindlichen Duft einatmete, und manchmal wünschte sie sich so sehr, ihn in die Arme nehmen zu können, dass es ihren ganzen Körper in Unruhe versetzte.
Natürlich hatte sie kein Recht zu solchen Vertraulichkeiten, und so blieb es beim Unterricht. Der wiederum gestaltete sich größtenteils so vergnüglich, dass Giulia öfter ihren Kopf in die Küche streckte als üblich, um nachzuschauen, was es wieder zu lachen gab.
»Solltest du ihn nicht besser im Salon unterrichten? Wir können auch zusätzlich einheizen.«
»Ach, bitte nicht, Mama, hier in der Küche ist es viel gemütlicher!«
Natürlich war er oft unkonzentriert, weil er nun mal ein kleiner Junge war und sich von allem ablenken ließ, sofern es nur beweglich oder laut genug war, etwa eine streunende Katze oder eine zeternde Passantin. Aber er war auch gutwillig und vor allem überdurchschnittlich intelligent, was sich deutlich an den vielen Fragen zeigte, mit denen er alle Menschen seiner Umgebung auf Trab hielt.
»Wenn die Leute in den Himmel kommen – wieso fallen sie nicht runter?«
»Ob Gott bei dem kalten Wetter einen Mantel anziehen muss? Wenn er so aussieht wie auf dem Fenster in der Kirche, friert er sicher.«
»Sanchia, warum sind deine Haare so hell?«
»Eleonora, ist dieses Fleisch auf meinem Teller ein räudiger Schweinehund ?«
»Warum wird es abends dunkel? Pustet Gott die Sonne dann aus, weil die Menschen schlafen gehen müssen?«
Sie alle hatten ihre liebe Mühe, seine Fragen kindgerecht zu beantworten. Meist blieb diese Aufgabe Sanchia vorbehalten, weil die übrigen Bewohner und Besucher des Hauses eher zu Verlautbarungen neigten wie Dafür bist du noch zu klein oder Ein braver kleiner Junge sollte nicht so viele dumme Fragen stellen .
»Eines musst du dir von Anfang an merken, Marco«, sagte Sanchia. »Nichts von dem, was du wissen willst, ist dumm. Wenn dich etwas interessiert, ist es immer wichtig.«
Eine steile Falte erschien über der kleinen Nase. »Bist du sicher?«
»Ganz sicher.« Sanchia konnte nicht widerstehen und fuhr ihm rasch mit der Hand durch das ordentlich gekämmte Haar. Er sah viel drolliger aus, wenn er zerzaust war.
»Rodolfo hat gesagt, ich bin ein kleiner Klugscheißer, weil ich so viel frage.«
»Rodolfo ist ein großer, dummer Ochse und denkt nur mit seinem …« Sanchia hielt gerade noch rechtzeitig inne. »Er denkt zu viel an deine Mutter. Ähm, und sag ihm bitte nicht, dass er ein Ochse ist, ja?«
Marco nickte großmütig. »Mama hat gemeint, er wäre ein Esel und ein wandelnder Goldsack, und das darf ich ihm auch nicht sagen.«
Rodolfo Strozzi, ein verwöhnter junger Galan aus einer Seitenlinie der berühmten Bankiersfamilie, war binnen Tagen zu Giulias ständigem Begleiter avanciert. Ihre Gesellschaften wurden kostspieliger und fanden seltener statt, denn sie konnte es sich nun leisten, wählerisch zu sein. Giovanni de’ Medicis großzügiges Abschiedsgeschenk hatte sie zu einer wohlhabenden Frau gemacht, und auch Rodolfo ließ sich nicht lumpen.
Eines Abends passte er Sanchia an der Treppe ab und trat dicht an ihre Seite. »Wie nett, Euch zu treffen, Monna Sanchia. Heute Abend seht Ihr wieder entzückend aus! Sicher sagt Euch jeder Mann, was für eine erlesene Schönheit Ihr seid, nicht wahr?«
Sanchia fragte sich beiläufig, ob er dasselbe auch denken würde, wenn er sie in ihrer neuen Wachsschürze sehen könnte, das Haar streng zurückgebunden und unter einer unkleidsamen Haube verstaut und die Hände bis zu den Ellbogen mit Blut und Schleim verschmiert.
»Die Schönheit in diesem Hause heißt Giulia Vecellio«, erklärte sie höflich, aber entschieden.
»Das bestreitet niemand.« Rodolfo Strozzi betrachtete sie belustigt. »Aber Ihr seid etwas Besonderes. Unter all den Edelsteinen seid Ihr wie ein makelloser, reiner Diamant.« Mit der Hand fuhr er über ihre Wange. »Wird Euch nicht manchmal abends langweilig, so allein in Eurer Kammer?«
Sanchia drehte das Gesicht weg. »Ich bin nicht allein. Entweder bin ich zum Arbeiten unterwegs, oder ich befinde mich in Gesellschaft meiner guten Freundin Eleonora.« Sie wollte sich an ihm vorbeischieben, doch er hielt sie am Arm fest. »Wisst Ihr, dass Ihr einem Madonnenbildnis ähnelt, das ich einmal
Weitere Kostenlose Bücher