Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
in einer Kirche gesehen habe? Es war auf die Fensterscheibe gemalt, ein grandioses Kunstwerk. Es hieß, der Mann, der es hergestellt hatte, sei ein Venezianer gewesen.«
Sanchia spürte einen schmerzhaften Stich, und mit einem Mal fluteten die Erinnerungen über sie herein. Sie hatte lange nicht mehr an ihren Vater gedacht, obwohl er doch so viele Jahre ihres Lebens der wichtigste Mensch für sie gewesen war.
»Verzeiht«, sagte sie mit einer Stimme, die zu ihrem eigenen Ärger wie die eines verzagten Kindes klang. »Ich muss weiter, die Kranken warten auf mich.« Sie versuchte, sich loszumachen, doch sein Griff wurde fester. Mit aufkeimender Wut schaute sie auf die Hand, die ihren Arm umklammert hielt. »Wollt Ihr mich bitte loslassen, Messèr Strozzi?«
»Ah, wie ich diesen venezianischen Zungenschlag liebe!« Er schaute sie auf unmissverständlich intime Weise an, ohne ihrer Bitte Folge zu leisten. »Könnt Ihr Euch nicht vielleicht vorstellen, einmal mit mir einen schönen Abend zu verbringen? Ich erfülle Euch jeden Wunsch, Madonna!«
Sie maß ihn voller Verachtung. »Was würde wohl Giulia dazu sagen?«
»Die wäre natürlich dabei«, sagte er sachlich. Er sah ihren verdatterten Gesichtsausdruck und lachte. »Wenn es Euch zu zweit lieber ist – kein Problem. Die wirklich aufregenden Dinge können wir uns für später aufsparen, sobald wir vertrauter miteinander sind.«
Sanchia betrachtete ihn angewidert. Auf eine leicht gewöhnliche Art sah er gut aus, mit einem kräftigen, gesunden Körper und gerade gewachsenen, weißen Zähnen. Giulia hätte es gewiss schlechter treffen können, doch sie selbst wäre im Traum nicht auf den Gedanken verfallen, ihm mehr zu erlauben als einen freundlichen Gruß im Vorbeigehen.
»Wie ist es, meine Schöne? Womit könnte ich Eure Gewogenheit gewinnen? Was wäre der Preis für Eure Nähe?«
Sie riss sich endgültig los, doch er grinste nur und schien es nicht krummzunehmen. »Giulia sagte schon, dass ich bei Euch auf Granit beißen würde. Aber einen Versuch war ich einer Schönheit wie Euch schuldig.«
Hastig lief sie hinaus und merkte erst auf der Straße, dass sie ihren Umhang vergessen hatte. Doch lieber fror sie, als diesem zudringlichen Nichtsnutz heute noch einmal über den Weg zu laufen.
Sie besuchte einen alten Mann, der in einem Haus unweit der Kirche San Lorenzo lebte. Alles schien sie heute an die Vergangenheit zu erinnern, sogar der schlichte Name einer Kirche, und Sanchia fragte sich, ob sie wohl je wieder einen Fuß auf heimatlichen Boden setzen würde.
Sie behandelte die offenen Geschwüre an den Knöcheln des Mannes mit Kräuterumschlägen und wurde unterdessen mit dem neuesten Klatsch versorgt. Die Franzosen rückten unausweichlich näher, und die Menschen in Florenz schwankten zwischen Angst und Aufregung. Mütter versteckten ihre Töchter auf dem Land, und alle aufrechten Bürger kannten die von der Signoria angelegten heimlichen Waffenlager, für den Fall, dass es zum Äußersten käme.
»Wenn uns jemand retten kann, dann nur der Frate«, sagte der Alte, einen verklärten Ausdruck im Gesicht. »Er ist das Licht in der Dunkelheit, der Weg in die Zukunft!«
Sanchia empfahl ihm, weniger Süßes zu essen und seinen Schnapskonsum einzuschränken.
»Meint Ihr, dass die Franzosen dergleichen verbieten werden?«, fragte der Mann besorgt.
»Nein, ich verbiete es Euch, denn es ist schlecht für Eure Beine. Sie werden immer weiter schwären, wenn Ihr so viel Alkohol trinkt und nascht. Esst mehr Gemüse, es darf ruhig roh sein. Die Blähungen sind sicherlich weniger gefährlich für Euren Körper als diese offenen Wunden.«
Der Alte musterte sie stirnrunzelnd. »Wüsste ich nicht, dass ihr wie eine erfahrene Hebamme neulich das Jüngste meiner Großnichte geholt habt und dass Ihr in der vorletzten Woche meinem Bruder die zerfetzte Hand geflickt habt wie ein Meisterchirurg, würde ich Euch ein freches Ding schelten. Wie könnt Ihr in Euren jungen Jahren bereits so viel über die Heilkunst wissen?«
»Ich habe früh angefangen und hatte gute Lehrer.«
»Ihr seid wahrlich völlig anders als alle anderen Frauen.«
»Auch das habe ich schon früh zu hören bekommen und seither immer wieder.« Sanchia unterdrückte ein Seufzen und sagte sich, dass sie wohl oder übel damit leben musste. Lieber dieser Weg als der von Giulia, mochte das Leben einer Kurtisane auch hundertmal besser bezahlt sein.
Die Tochter des Alten brachte ein Kleinkind herein, ein Mädchen
Weitere Kostenlose Bücher