Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
sie schließlich geistesabwesend.
»Hier wohnt Ihr? Ein schönes Haus.«
Mehr als ein höfliches Kompliment konnte das nicht sein. Das Haus war weit davon entfernt, ein Palazzo zu sein, sogar nach venezianischen Begriffsbestimmungen, aber dafür war es recht idyllisch gelegen. Es war Bestandteil des Grundbesitzes des Klosters von San Lorenzo gewesen, und Annunziata hatte es Sanchia zu einem niedrigen Preis überlassen können. Zweistöckig und solide gebaut, verfügte es über eine große Küche und einen Wirtschaftsraum sowie einen niedrigen kleinen Wein- und Vorratskeller. Im Obergeschoss gab es zwei Schlafkammern, deren eine sich Sanchia und Eleonora teilten, während in der anderen die Amme und Agostino nächtigten. Zu dem kleinen Anwesen gehörten ferner ein Ziegen- und Hühnerstall an der rückwärtigen Seite des Hauses sowie ein winziger, dafür aber gepflegter Kräuter- und Gemüsegarten, Eleonoras ganzer Stolz. Einen Kanalzugang hatte das Haus nicht. Es befand sich westlich vom Arsenal am Ende einer Gasse, die an den Weingärten eines Franziskanerklosters vorbeiführte und in einen Campiello mündete, in dessen Mitte sich eine Zisterne befand.
»Kommst du her, du kleiner Teufel!« In einem Wirbel aus schwingenden Röcken und aufgelösten Haaren kam Eleonora aus dem Haus gestürmt und prallte um ein Haar mit Sarpi zusammen. »Oh, Verzeihung«, stammelte sie, während ihre Wangen hochrot anliefen. »Ich … ähm, ich suche meinen Jungen.« Völlig außer sich, wandte sie sich an Sanchia. »Wo ist er?«
»Ich habe ihn nicht gesehen.«
Eleonora verlor augenblicklich den kläglichen Rest ihrer Fassung. »Er ist weg! Eben war er noch da, jetzt ist er verschwunden! Er ist bestimmt zum Wasser gelaufen!«
Sie lebte in beständiger Angst, Agostino könne in den Kanal fallen, obwohl es bis zur nächsten Fondamenta ein ganzes Stück Weg war, jedenfalls für ein so kleines Kind wie ihn. Mit sechzehn Monaten war er bei weitem nicht in der Lage, zielgerichtet irgendwohin zu marschieren. Meist blieb er schon nach wenigen Schritten stehen, um interessante Gegenstände zu untersuchen, die sich in aller Regel dort befanden, wo er raschen Zugriff darauf hatte, nämlich auf dem Boden – zu Eleonoras Leidwesen meist in Form von Steinen, Eselsdung oder Hundekot.
Sie wandte suchend den Kopf hin und her. »Tino! Tino!« Ihre Stimme steigerte sich zu einem schrillen Diskant. »A – gos – tino! Wo bist du?«
Es kam keine Antwort, und Eleonora rang entsetzt die Hände. Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie begann, ziellos auf dem kleinen Platz vor dem Haus hin und her zu laufen. Zwischendurch vergewisserte sie sich, dass Agostino nicht in den Brunnen gefallen war.
»Ich nehme an, es handelt sich um einen kleinen Knaben?«, fragte Sarpi sachlich.
Sanchia nickte besorgt. »Er ist noch keine anderthalb und hat ein rotes Wämslein an. Jedenfalls hatte er das vorhin, als ich ihn das letzte Mal sah.«
Sarpi marschierte ein Stück die Straße hinab und machte vor einem Häuschen halt, auf dessen staubigem Vorplatz sich ein paar Kätzchen balgten. Er griff zielsicher hinter ein Fass und zog den Kleinen hervor, der sich im Griff des Fremden sofort zu winden begann und ein ohrenbetäubendes Geschrei anstimmte.
»Ich nehme an, das ist Euer Agostino«, sagte er trocken.
Eleonora riss den Jungen an sich und herzte ihn so heftig, dass er noch lauter brüllte. »Wie konntet Ihr ihn so schnell finden?«, schluchzte sie.
»Ich habe ihn vorhin im Vorbeigehen dort hocken und mit den Kätzchen spielen sehen.«
Eleonora hörte schlagartig mit dem Weinen auf und blinzelte den Retter unter Tränen an. »Ich danke Euch! Was seid Ihr für ein kluger, aufmerksamer Mann!« Ihre Blicke huschten hurtig an ihm hinauf und hinunter. »Seid Ihr ein Bekannter Sanchias?«
Sanchia besann sich auf ihre Erziehung. »Wir kennen uns aus dem Arsenal. Er ist ein Medicus.« Förmlich fügte sie hinzu: »Dottore Fausto Sarpi. Er kommt aus Rom und arbeitet für eine Weile hier. Dottore, darf ich Euch Eleonora Toderini vorstellen, meine Freundin und Hausgenossin. Ihren Sohn Agostino kennt Ihr ja bereits.«
Eleonora musterte ihn noch eingehender, und es war unmöglich zu leugnen, dass ihr gefiel, was sie sah, vom sauber gefältelten weißen Kragen seines Hemdes bis zum guten Sitz seiner fleckenlosen Beinlinge. Sie schien jedes Detail seiner Erscheinung in sich aufzusaugen.
»Für diese Tat gebührt Euch mehr als nur ein höfliches Wort! Kommt mit
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