Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
von dem Essen auftun und setzten sich dazu. Herkules sprang winselnd hin und her, bis auch sein Schälchen gefüllt wurde.
Sarpi kaute bereits mit vollen Backen, die Augen in höchster Seligkeit verdreht. Ganz ohne Frage war er, wie alle Männer, von jenem Schlage, der gerne jeden Tag gut isst.
Girolamo strahlte so breit, dass sie problemlos seine hinteren Backenzähne sehen konnte. Sie hatte sich in den letzten Monaten nicht mehr häufig im Kloster blicken lassen. Nicht, weil es sie nicht mehr dorthin gezogen hätte, sondern weil es ihr schlicht an Zeit mangelte.
»Ich freue mich ebenfalls, dich zu sehen.« Sie konnte seine Gesten inzwischen deuten, ohne richtig hinzusehen, und am beredtesten war immer noch sein Gesicht.
Sie zeigte auf seinen Rücken, und er nickte zufrieden. Seine Kriegsverletzungen machten ihm kaum noch zu schaffen. Eine weitere Geste, mit der er unbestimmt in Richtung Refektorium zeigte und dann ein Paar Zöpfe andeutete: Es war Maddalena, die nach seinem Rücken schaute.
Das Mädchen hatte zuerst Annunziata und dann ihren Eltern die Erlaubnis zum Erlernen des Hebammenberufs abgetrotzt. Seit einem halben Jahr durfte sie die Hebamme, die im Bezirk von San Marco arbeitete, zu den Geburten und den Wöchnerinnen begleiten. Mindestens ebenso oft ließ sie sich von Girolamo oder Moses zum Ospedale di San Lorenzo bringen, um sich von Simon in der Krankenpflege unterweisen zu lassen.
»Ich habe es mir sogar offiziell vom Patriarchat absegnen lassen, damit niemand mehr deswegen Ärger machen kann«, erzählte Annunziata, nachdem sie von einer Conversa Wein und Gebäck in das Empfangszimmer ihrer Amtsräume hatte bringen lassen. Sie residierte in einem neu erbauten Gebäude, das die Stelle des alten Palazzo eingenommen hatte. Es war größer, nüchterner und ähnelte in nichts dem heruntergekommenen Domizil ihrer verstorbenen Schwester.
»Weißt du, was ich als Argument ins Feld geführt habe? Dass es die weibliche Schamhaftigkeit der Nonnen verletzt, wenn ein männlicher Heilkundiger sich ihrer Krankheiten annimmt. Schon das Erscheinen eines Medicus im Kloster, so habe ich ausgeführt, ist eine unzumutbare Belästigung der empfindsamen frommen Frauen, sodass die Gegenwart einer in der Pflege bewanderten Nonne unerlässlich ist. Sie haben eine Weile hin und her überlegt und es dann überraschend schnell erlaubt.« Sie lachte laut, fast so unbeschwert wie in vergangenen Zeiten. In den letzten Jahren war sie vollständig ergraut und hatte stark an Gewicht zugelegt, doch in ihren Zügen war immer noch viel von ihrer früheren Furchtlosigkeit und Lebenslust zu erkennen.
»Wenn Tullio nur immer so schnell entscheiden könnte, hätte es hier manchen Ärger nicht gegeben. Jetzt hat sie den Dispens, und was nützt er ihr?!« Annunziata griff nach einem Gebäckstück und biss so heftig hinein, als sei ihr der Weihbischof persönlich zwischen die Zähne geraten. Nachdem das Verfahren gegen Sanchia und Eleonora vor dem Zehnerrat ebenso schnell wie heimlich niedergeschlagen worden war, hatte sich auch Tullio Sabellico beeilt, den senilen Patriarchen den Dispens für eine Ehe der Eleonora Toderini unterzeichnen zu lassen. Zweifellos hatte er zutreffend vermutet, dass nicht nur die Familie Toderini, sondern alle Welt es der Kirche anlasten würde, auf welch himmelschreiende Weise eine unbescholtene junge Nonne behandelt worden war. Zuerst eine Vergewaltigung durch einen im Auftrag des Patriarchen tätigen Spitalinspizienten und anschließend eine falsche Bezichtigung durch einen offiziellen Adjutanten Tullio Sabellicos – wäre die Angelegenheit erst publik geworden, hätten die Wogen des öffentlichen und familiären Zorns bis in den Vatikan schwappen können. Dem armen Ding rasch in den schützenden Hafen einer Ehe zu helfen, war das Mindeste, was man zur Wiedergutmachung tun konnte. Dass der zukünftige Gatte zwischenzeitlich von der Signoria verbannt worden war und der Dispens somit ins Leere zielte, konnte man unmöglich dem Patriarchen oder seinem Stellvertreter anlasten. So ähnlich hatte sich Tullio bei seinem letzten Besuch Annunziata gegenüber geäußert, und Sanchia, der sie das Gespräch in allen Einzelheiten berichtet hatte, blieb nur das Fazit, dass das Schicksal manchmal verschlungene Pfade bereithielt, die ebenfalls zum Ziel führten – wenn auch nicht immer zu dem ursprünglich angestrebten.
»Sie kann den Dispens sehr wohl brauchen. Sie will heiraten.«
Annunziata verschluckte sich an
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