Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
Schätze, Nachlässe, für die es keinen Erben gab, und auf See aufgebrachtes Raubgut. Sanchia hatte ihn vor gut zwei Monaten einmal an der Riva degli Schiavoni gesehen, wo Männer unter seinem Kommando die Fracht einer Piratengaleere gelöscht hatten. Sie war so schnell weitergegangen, wie es eben möglich war, ohne aufzufallen. Seit dem letzten Gespräch mit Giulia war ihr übel, wenn sie nur an ihn dachte. Ihn zu sehen hatte Brechreiz in ihr ausgelöst.
»Wie soll es denn nun weitergehen?« Annunziata riss sie aus ihren Gedanken. »Will sie mit ihrem Medicus nach Rom ziehen?«
»Wenn er irgendwann dorthin zurückgeht – ganz bestimmt. Doch zuerst müssen sie natürlich heiraten.«
»Natürlich«, brummte Annunziata. »Steht der Zeitpunkt schon fest?«
»Im Laufe der nächsten beiden Monate, spätestens bis Allerheiligen.«
»Sie verliert keine Zeit«, stellte Annunziata fest.
»Wahrscheinlich hat sie schlechte Erfahrungen mit einer verzögerten Eheschließung«, meinte Sanchia.
Annunziata blickte sie scharf an, und als sie sah, dass Sanchia grinste, musste sie lachen. »Du kannst manchmal ein Biest sein, weißt du das?«
»Ich hatte gute Lehrerinnen.«
Annunziata nickte langsam. »Warst du schon an ihrem Grab?«
»Nein, noch nicht. Wollen wir hingehen?«
»Natürlich«, sagte Annunziata.
Auf dem Weg zum Kirchfriedhof von San Lorenzo begegnete ihnen Moses. Der Stallknecht zog eine Ziege an einem Strick sowie in deren Gefolge einen Schwarm brummender Fliegen hinter sich her und lächelte dabei so breit und einfältig wie eh und je. Es schien, als sei er in den letzten Jahren noch weltvergessener geworden.
Als er Sanchia sah, tat er einen erschreckten Satz und trabte im Eilschritt davon. Die Ziege hoppelte meckernd und auskeilend hinter ihm her.
»Was hat er?«, fragte Sanchia befremdet.
»Er musste damals das Blut in der Küche aufwischen und den Bütteln helfen, die Leiche des Deutschen zum Tor zu schleppen. Offenbar erinnert er sich daran, dass du beim Tod des Baders eine Rolle gespielt hast.«
Vielleicht erinnerte er sich auch an eine Denunziation, dachte Sanchia freudlos. Nur von ihm konnte Ambrosio damals erfahren haben, wo sie sich mit Lorenzo traf.
Seit ihrer Rückkehr war sie einige Male bei dem alten Palazzo gewesen und hatte von der Gondel aus zu dem Fenster ihres früheren Liebesnestes hinaufgeschaut. Über ihr hatte die Nachmittagssonne die Fassade zum Leuchten gebracht, doch die Schatten der Erinnerung hatten sich auf sie herabgesenkt wie ein dunkles Tuch, unter dem ihr das Atmen schwer geworden war. Sie vermisste ihn immer noch so stark, dass sie es körperlich spürte. Ihr Zittern hatte fast die ganze Bootsfahrt zurück nach Castello angehalten. Irgendwann würde sie es vielleicht über sich bringen können, an seinem Grab zu stehen, aber noch nicht so bald.
Annunziata öffnete das Tor zum Friedhof, und während sie die Reihe der Gräber entlangschritten, war sich Sanchia auf schmerzliche Weise der Vergänglichkeit allen Irdischen bewusst. Kein Leben, das nicht zu Ende ging, ob leer oder reich an Liebe. Irgendwann lagen sie alle unter kalten Steinen, bar aller Empfindungen und jenseits von Reue oder Hoffnung.
Sie holte Luft und erzählte Annunziata von ihrem Wunsch, ein Haus für mittellose Mädchen und Frauen zu bauen und dort zu unterrichten.
»Warum willst du warten, bis das Haus deiner Träume Wirklichkeit wird?«, fragte die Äbtissin. Sie wirkte nicht sonderlich erstaunt. »Nimm solange mit dem unseren vorlieb. Wir teilen einen Raum im Scriptorium ab. Mindestens zwei oder drei Nonnen wären mit Feuereifer dabei, so viel ist sicher. Dem Patriarchat werde ich es als Bibelunterricht schmackhaft machen. Als dringende Notwendigkeit, auch Frauen aus dem Volk das Wort Gottes nahezubringen. Im Zeitalter des wie rasend um sich greifenden Buchdrucks ist das schlechthin unabdingbar, darf doch Venedig nicht hinter anderen mächtigen Staaten wie Frankreich, Spanien und Portugal zurückstehen!«
»Können einfache Frauen dort mit dem Segen der Kirche Lesen lernen?«, fragte Sanchia überrascht.
»Keine Ahnung.« Annunziata kicherte, dann verstummte sie und bekreuzigte sich. Sie hatten das Grab erreicht. Blumen wuchsen auf dem schmalen, flachen Erdhügel, weiße Lilien, Tagetes und Alstromerien. Eine Pinie breitete ihre Zweige wie einen Schirm über der Grabstätte aus und warf ein Gesprenkel goldgefleckter Schatten über die Blüten.
»Sie wäre von deiner Idee angetan«, sagte
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