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Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)

Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Thomas
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Annunziata leise. Sie bückte sich und zupfte ein Büschel Unkraut aus. »Ich bin sicher, es hätte ihr gefallen!«
    Lehre deine Tochter, so du je eine haben wirst, das Lesen  …
    Sanchia betrachtete den polierten Marmor mit der schlichten Inschrift.
    Requiescat in Pace
    Sr. Albiera Maria Eugenia Mocenigo
    A.D. MCDXL–MCDLXXXIV
    Sie hätte in der Kirche bestattet werden können, in einem aufwändig gestalteten Sarkophag mit verschnörkelten Epitaphen, so wie ihre Brüder und die anderen Würdenträger der Familie. Doch in ihrem Testament war es anders bestimmt. Sie hatte es vorgezogen, auch nach dem Tod den freien Himmel über sich zu haben.
    Annunziata hielt die Hände vor der Brust gefaltet und sprach für ihre tote Schwester eine Fürbitte. Ihre Stimme klang monoton und war von Trauer erfüllt.
    Sanchia fuhr mit den Fingerspitzen über den Grabstein und ließ die von der Sonne erzeugte Wärme in sich einsickern. »Ja«, murmelte sie. »Es hätte ihr ganz bestimmt gefallen.«
    Die Nacht war so schwarz, dass sich alle Umrisse wie in einem Meer aus Tinte auflösten. Das Talglicht, das er auf der Treppe noch bei sich gehabt hatte, stand im Nebenraum. Er würde es für den Rückweg brauchen, wenn er nicht Gefahr laufen wollte, zu stürzen. Er hatte den Grundriss des ganzen Hauses immer noch so klar vor Augen, dass er ihn blind hätte zeichnen können, aber seine Behinderung schränkte ihn in seiner Bewegungsfähigkeit zu stark ein, als dass er darauf hätte vertrauen können, seinen Weg auch im Dunkeln zu finden. Schon das Heraufkommen war beschwerlich genug gewesen, und wenn er später wieder verschwand, würde er sich vielleicht beeilen müssen. Außerdem plagte ihn die ständige Sorge, entdeckt zu werden. Obwohl er die Holzprothese am unteren Ende sorgfältig mit Leder umwickelt hatte, war er bei jedem Schritt zusammengezuckt, voller Furcht, dass man ihn im Haus hören konnte. Er war zu sehr daran gewöhnt, beim Gehen Lärm zu machen. Die Leute drehten sich bereits nach ihm um, wenn er noch fünfzig Schritte von ihnen entfernt war. Das ständige Tok-tok im Ohr zu haben war für ihn zur Normalität geworden, und heute Nacht, da es von einem Lederpolster verschluckt wurde, kam er sich absurderweise zum ersten Mal seit Jahren wirklich amputiert vor.
    Er hinkte durch den Raum, sich vorsichtig an der Wand entlangtastend. Er war oft genug hier gewesen und kannte daher die Innenmaße, sodass er durch Zählen seiner Schritte die Entfernungen nachhalten konnte, doch vor seinem geistigen Auge gab es keine Zeichnung über die Innendekoration. Die meisten Menschen änderten dergleichen häufig. Überall konnten Tischchen oder Truhen oder Vitrinen stehen.
    Als seine Hand über einen Gobelin streifte und ihn in bedenkliches Rutschen versetzte, fluchte er lautlos. Er hielt den Wandbehang fest, bis er sicher sein konnte, dass er nicht herabfiel.
    Die Tür zu dem Schlafgemach war nur angelehnt, er konnte sie lautlos aufdrücken. Seine Hand fand den Bettpfosten am Fußende und fuhr über die seidene Decke der Länge nach hinauf zum Kopfteil. Seine Finger glitten in volles Haar und legten sich dann auf den im Schlaf offen stehenden Mund, während seine andere Hand bereits das Messer an die bloßliegende Kehle setzte. Er wurde mit einem erstickten Aufschrei belohnt. »Still«, zischte er. »Wenn du leben willst, sprichst du so leise, dass nicht mal Gott dich hören kann. Hast du mich verstanden?«
    Ein Nicken zeigte ihm, dass dies der Fall war.
    »Was willst du?« Das Flüstern kam tatsächlich so gedämpft, dass es kaum zu verstehen war.
    »Ich will mein Leben zurück«, sagte Pasquale einfach.
    »Wer bist du?«
    »Der Spiegelmacher, wer sonst.«
    »Ich wüsste nicht, was ich für dich tun kann.«
    »Du hältst die Macht in deinen Händen. Damals wie heute. Nutze sie gut, dann bleibst du am Leben.«
    »Ich könnte schreien.«
    »Das könntest du. Aber dann würde ich dir die Kehle aufschlitzen, und außer einem schönen Grab in der Familiengruft bliebe nichts von dir übrig.«
    »Tot nütze ich dir nichts.«
    »Damit hast du völlig Recht. Und du willst auch gar nicht tot sein, dafür lebst du viel zu gerne. Soll ich sie dir aufzählen, all deine kleinen und großen Laster?«
    Eine unbedachte Bewegung seines Opfers brachte Pasquale dazu, das Messer fester in die weiche Haut des Halses zu drücken. Feuchtigkeit breitete sich aus, er hatte einen Schnitt verursacht.
    Ein schmerzvolles Zischen traf sein Ohr. »Du Idiot! Hast du eine

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