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Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)

Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Thomas
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Mal in die Arme genommen …« An dieser Stelle verließ ihn seine Beherrschung. Er bewegte sich immer noch nicht, doch Sanchia sah die Tropfen, die auf seine Hand niederfielen. Aus seinem gesunden Auge rannen Tränen, die sich einen Weg über seine eingefallene Wange und sein Kinn bahnten und dann auf seinem Handrücken landeten, klare Perlen wie aus nassem Glas.
    Ein gewaltiger Druck schnürte Sanchia die Brust zusammen, und sie hob beide Hände, um sie gegen den Mund zu pressen.
    »Ich habe auf sie gewartet, die ganze Zeit. Ich dachte, sie möchte vielleicht noch Abschied von mir nehmen. Nur ein letztes Wort. Ein Blick … Ich weiß nicht, warum …« Seine Stimme brach, und nach einem tiefen Atemzug begann er stumm zu weinen. Seine Brust zog sich heftig ein und weitete sich wieder, er schluchzte, ohne einen Laut von sich zu geben.
    Sanchia warf die Arme um ihn und zog ihn an sich, presste ihn an ihren Körper, so fest sie konnte. Sie spürte sein Beben und seine inneren Qualen und hielt ihn fest, damit er weinen konnte.
    Er wollte nicht mit ihr zur Werkstatt zurückgehen.
    »Lass mich noch eine Weile hier sitzen«, meinte er, als sie nach einer Weile aufstand. »Sie werden schon noch genug dumme Fragen stellen. Segle du nur wieder mit deinem stummen Riesen zurück und bete für mich.«
    »Du wirst darüber hinwegkommen«, sagte sie leise. »Die Zeit wird dir dabei helfen. Ich hoffe, du weißt das.«
    Er lachte kurz und bitter. »Selbstverständlich weiß ich es.«
    Zweifelnd blickte sie auf seinen gesenkten Scheitel. »Es lohnt sich, weiterzuleben, auch wenn es einem im Augenblick des größten Leids manchmal nicht so erscheint.«
    Er blickte zu ihr auf, das Auge rot umrandet. Ein schiefes Grinsen verzog einen Mundwinkel.
    Ein halbes Lächeln, dachte sie. Es war besser als nichts.
    »Egal, was einem Schlimmes widerfährt, es gibt immer noch Wichtiges zu tun«, hob sie abermals hervor.
    Sie hätte gern gesehen, wie aus dem halben Lächeln ein ganzes wurde, doch den Gefallen tat er ihr nicht. Aber seine Stimme klang gelassen, als er ihr antwortete. »Solange wir beide am Leben sind, gibt es in jedem Fall Wichtiges zu tun.«
    Fragend schaute sie ihn an. »Was meinst du?«
    »Nun, ich muss ein Versprechen erfüllen, das ich deinem Vater gegeben habe, nicht wahr? Er hat mein Wort, dass ich dich beschütze und mit meinem Leben für dich einstehe.«
    Ihr Herz flog ihm entgegen, als sie ihn zum Abschied umarmte. Vieles hatte sich verändert, auch für sie. Menschen, die sie liebte, waren fortgegangen, manche für immer. Hoffnungen waren zerstoben und jener rastlosen Suche gewichen, die kein anderes Ziel kannte, als wenigstens einen Zipfel von dem Glück wiederzufinden, das doch irgendwo existieren musste.
    Alles war anders, aber er war noch da. Ihr alter Freund aus Kindertagen, der sie aus der Asche des Ofens gezogen hatte. Der sie mit seinem selbst erzeugten Donner aus den Klauen der Plünderer gerettet und sie, wieder Jahre später, um den Preis seines eigenen Glücks aus dem Kerker befreit hatte.
    Als sie wieder zu Girolamo aufs Boot stieg, war sie ausgelaugt wie nach einer tagelangen Wanderung. Während der Rückfahrt nickte sie mehrmals ein und hatte blutige Träume, in denen sie abwechselnd von Ambrosio und Enrico verfolgt wurde. Dann wieder tauchte Pasquale auf, der ihr einen Spiegel vorhielt. »Ich beschütze dich«, sagte eine Stimme, und als sie ihr nachlauschte, erkannte sie, dass es ihre eigene war.
    Als sie an San Michele vorbeisegelten, wachte sie auf und bat Girolamo, sie mit zum Kloster zu nehmen. Zu Hause wartete niemand mehr auf sie, seit Eleonora und der Kleine mit Sarpi und Cornelia in der letzten Woche nach Rom abgereist waren. Die Trauung war in aller Eile vollzogen worden, Eleonora hatte nach Pasquales letztem Brief keinen Tag länger warten wollen. Ebenso hektisch war die Abreise vonstatten gegangen. Sarpi war alles recht gewesen, er freute sich über seine neue kleine Familie, und er freute sich auf Rom, wo er eine Schar von jüngeren Geschwistern hatte und Eltern, die vermutlich ebenso fröhlichen Gemüts waren wie er selbst.
    Der Abschied hatte sich als tränenreiche Angelegenheit gestaltet, zumindest von Eleonoras Seite aus. Sie war schluchzend in Sanchias Arme gesunken und hatte sie angefleht, für ihre verlorene Seele zu beten. Der Kleine hatte wie von Sinnen gebrüllt, vermutlich jedoch weniger aus Abschiedsschmerz als aus Schreck darüber, seine Mutter so laut heulen zu hören. Und so

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