Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
waren sie aufgebrochen, ihre Habe auf einem Traghetto verstaut, das unter Eleonoras Truhen fast im Kanal versank. Nur den Spiegel hatte sie dagelassen.
»Ich danke dir«, sagte Sanchia zu Girolamo, als er ihr vom Boot auf die Fondamenta half. »Ohne dich wüsste ich nicht, wie ich manche Tage überstehen sollte.«
Er nickte, und in seinen Augen erkannte sie seine tiefe Zuneigung.
Ich bin nicht allein, dachte sie. Girolamo ist auch noch da. Ein weiterer Freund, der sie zuverlässig auf ihren Wegen begleitete, solange sie ihn brauchte.
Er verschwand in seinem Torhäuschen, während Sanchia ihre Schritte in Richtung Hauptgebäude lenkte. Auf halbem Wege blieb sie stehen. Die Luft blieb ihr weg, und ihr war, als zerquetschte eine gewaltige Faust ihr Herz. Drüben über der Mauerkrone kamen pfeilgleich Vögel herangeschossen. Flatternd senkten sie sich nieder, um auf dem Dach des Refektoriums zu landen.
Es waren zwei weiße Tauben.
»Ich habe keine Ahnung, wer sie schickt oder wem sie gehören«, meinte Maddalena. Beklommen blickte sie Sanchia an, augenscheinlich überrascht von der Aufregung, mit der diese in ihre Kammer geplatzt war, nachdem sie von einer der anderen Nonnen erfahren hatte, wer die Tauben hütete. »Bist du sicher, dass es überhaupt dieselben sind?«
»Natürlich bin ich sicher!«, schrie Sanchia. Sie sah, wie das Mädchen zusammenzuckte und mäßigte ihre Stimme. »Verzeih«, sagte sie mühsam. »Du kannst ja nichts dafür. Es war … Es gab einmal jemanden, der sehr wichtig für mich war. Die Tauben waren meine Verbindung zu ihm. Es sind besondere Tiere, und niemals könnten sie anderen gleichsehen. Sie sind einzigartig, wie zwei Juwele, die es nur einmal auf der Welt gibt.«
Maddalena breitete die Hände aus. »Sie kamen eines Tages, wie aus dem Nichts. Vor ein paar Wochen erschienen sie das erste Mal, seitdem hin und wieder, aber unregelmäßig. Ich habe mich um sie gekümmert, so wie ich mich auch immer um die anderen Tauben kümmere. Sie haben einen eigenen Schlag bekommen, und ich war jedes Mal glücklich, wenn sie auftauchten. Ich weiß auch nicht, warum ich mich immer so gefreut habe, im Grunde war es albern, diesen Zetteln so entgegenzufiebern.«
»Was für Zettel?« Sanchia starrte sie an, und plötzlich erschien ihr das herbe Gesicht der jungen Nonne wie das Antlitz des Teufels. Ihre Hand krampfte sich um ihren Anhänger, bis sie ihre Finger nicht mehr spürte.
»Ach, einfach nur winzige Rollen Pergament, auf denen der Tag und die Uhrzeit vermerkt waren.« Als Sanchia sie verständnislos anblickte, fügte sie hinzu: »Die Zeit, wann sie aufgelassen wurden. Mehr stand nicht drauf.«
»Hast du sie aufgehoben?«
Maddalena schüttelte den Kopf. »Wozu sollte ich Zettel aufheben, auf denen ein Datum und eine Uhrzeit steht? Ich habe einfach alles in eine Liste eingetragen, das ist viel übersichtlicher. Es kam auch nicht jedes Mal ein Zettel. Heute zum Beispiel war keiner dabei.«
»Das habe ich selbst gesehen«, herrschte Sanchia sie an.
Maddalena wirkte verletzt, und Sanchia riss sich zusammen. Mit einem Mal war Maddalena wieder dieselbe wie vorher, nicht anders als sonst und schon gar nicht bösartig. Sie war einfach nur eine eifrige junge Frau, begierig, ihr Wissen zu erweitern und über die enge Welt der Klostermauern hinauszuschauen, genauso wie sie selbst.
Sogar die Kammer ähnelte ihrer eigenen Zellenhälfte von früher. An Einrichtung gab es nichts weiter als ein Bett und eine schlichte Truhe, einen Stuhl und einen schmalen Tisch. Und ein Bord mit drei Büchern, für eine junge Frau ein unermesslicher Reichtum, den andere in ihrem ganzen Leben nicht erwirtschaften konnten.
Maddalena war ihren Blicken gefolgt. »Es sind nicht meine«, sagte sie schüchtern. »Sie sind aus dem Scriptorium geliehen. Aber ich behandle sie gut und bringe sie jedes Mal rasch zurück.« Sie räusperte sich. »Ich schreibe sie ab«, sagte sie mit glühenden Wangen. »Es gibt da ein mehrbändiges Werk von einem unglaublichen arabischen Arzt, er trägt den Namen …«
»Avicenna«, sagte Sanchia leise. Sie trat an das Wandbord und berührte den Buchrücken. Wie viele Nachmittage hatte sie in der Klosterbücherei gestanden und seine Texte kopiert? Vieles davon hätte sie immer noch auswendig herunterbeten können.
»Manchmal denke ich, dass ich verrückt bin«, flüsterte Maddalena. »Meine Eltern sagen es, und viele der anderen hier auch. Es ist so ein Hunger in mir, der mir keine Ruhe
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