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Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)

Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Thomas
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lässt. Alles drängt in mir danach, mehr zu erfahren, es tut beinahe weh hier drin, so sehr will ich es.« Sie schlug sich mit der Faust auf die Brust. »Ich möchte sehen, wie es in den Menschen aussieht, unter der Haut, im Kopf und im Bauch. Wenn ich die Hebamme begleite, sehe ich, wie der winzige Mensch aus der Mutter herausgleitet, und in diesen Augenblicken möchte ich hineinschauen, hinter all das Blut und die Schmerzen, und ich möchte … sehen .« Das letzte Wort kam in verzweifeltem Ton heraus. Verlegen brach sie ab und senkte die Blicke.
    »In San Marco gibt es einen Drucker, er hat ein Verlagshaus«, sagte Sanchia. »Sein Name ist Aldo Manuzio. Du bist nicht verrückt, und du wirst es merken, wenn du dorthin kommst. Lass dich von Girolamo oder Moses hinbringen und sag, dass du auf meine Empfehlung kommst.« Bedächtig fügte sie hinzu: »In die Menschen hineinsehen zu können ist ein alter Traum aller Heiler. Ich würde sonst was darum geben, einmal bei einer Leichenöffnung dabei sein zu dürfen.«
    »Aber es ist verboten!«, rief Maddalena wütend aus.
    »So ist es«, versetzte Sanchia trocken.
    »Warum sind wir als Frauen weniger wert?«, fragte Maddalena leidenschaftlich. »Warum dürfen wir Petrarcas schwülstige Sonette lesen, aber nicht von Avicenna oder Pacioli lernen? Warum erdreisten sich Männer, uns wie hirnlose Puppen zu behandeln und uns den Zugang zum Wissen zu verbieten?«
    »So schwülstig finde ich Petrarca nicht. Und irgendwann ändern sich die Verhältnisse sicher. In kleinen Schritten, so wie sich alles ändert.«
    »Ich möchte es aber noch erleben !«
    »Natürlich. Das möchte ich auch. Aber für eine Leichenöffnung den Hals zu riskieren wäre vielleicht etwas zu viel des Guten.«
    »Für mich nicht«, stieß Maddalena hervor. »Ich täte es sofort.«
    Sanchia lächelte. Werde du nur erwachsen, dachte sie.
    Erst als sie bereits an der Tür war, wurde ihr klar, dass sie selbst nur wenige Jahre älter war als das Mädchen. Aber diese kurze Zeit hatte ausgereicht, um etwas Grundlegendes zu lernen: Sie hatte nur ein Leben, und sie hatte schon zu oft darum zittern müssen, um es ohne Not wegzuwerfen.
    »Warte«, sagte Maddalena. »Ich habe noch etwas vergessen.«
    Sanchia blieb an der Tür stehen, während Maddalena sich über ihre Truhe bückte und darin herumkramte. Sie brachte einen Gegenstand zum Vorschein und stand auf, um ihn Sanchia zu reichen. »Das wollte ich dir schon die ganze Zeit zurückgeben, aber irgendwas kam immer dazwischen.« Sie besann sich, um ihre letzte Bemerkung sogleich einzuschränken. »Na ja, ich fürchte, die meiste Zeit habe ich einfach nicht dran gedacht, weil ich immer so viele andere Dinge im Kopf herumwälze. Aber nachdem wir gerade das Gespräch über die Tauben hatten …« Sie hob die Schultern. »Die Ehrwürdige Mutter hatte mir damals nach … nach jener grausigen Nacht aufgetragen, eure Sachen zusammenzupacken, deine und Eleonoras. Als ich das hier fand, dachte ich, dass es Eleonora gehört, denn du besaßest keinerlei Zierrat. Sie dagegen hatte so viel nutzlosen teuren Kram, aber nichts von alledem fand ich sonderlich interessant. Bis auf das hier. Es ist … hübsch. Die Ehrwürdige Mutter sagte dann später irgendwann, es sei dein Besitz. Ich fragte sie, ob ich es verwahren darf, und sie hat es mir erlaubt.«
    Sanchia schwieg. Deshalb war es nicht bei ihren Sachen gewesen, die sie im letzten Jahr nach ihrer Rückkehr bei Annunziata abgeholt hatte! Sie war einfach stillschweigend davon ausgegangen, dass jemand es gestohlen oder zerbrochen hatte.
    »Danke«, sagte sie tonlos. »Ich danke dir sehr.«
    Maddalena musterte sie verunsichert. »Ist alles in Ordnung? Bist du böse, dass ich es dir nicht früher zurückgegeben habe?«
    »Nein«, sagte Sanchia, ohne zu wissen, welche der beiden Fragen sie damit beantwortet hatte. Sie streckte die Hand zum Türgriff aus, und die Finger ihrer anderen Hand schlossen sich sacht um die gläserne Taube, das letzte Geschenk ihres Vaters.
    In den Kreuzgängen des Innenhofs sah sie einen Mann davongehen. Sie starrte den breiten Rücken an, die rundlichen Schultern …
    »Messèr Sagredo!«, rief sie.
    Er blieb stehen, als wäre er gegen eine Mauer geprallt. Den Kopf schräg geneigt und die Hände leicht herabhängend, als ginge ihn das, was um ihn herum geschah, nicht wirklich etwas an, wandte er ihr für die Dauer mehrerer Herzschläge den Rücken zu. Nur langsam drehte er sich zu ihr um. Sein Gesicht war

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