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Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)

Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Thomas
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der Abendsonne, mit seinen fein gemeißelten Löwenköpfen an den Balkonen, den byzantinisch verschnörkelten Taustäben und den perfekt synchronisierten Kantsteinen aus istrischem Marmor. Die gedrechselten Gesimsbänder und die glatten Säulen schienen in ihrer Verlängerung alle auf einen Punkt zuzustreben: Das runde, strahlende Bernsteinfenster in der Mitte der Fassade, ein Auge, mit dem das Haus sie anblickte. Wie das goldene Einglas eines Zyklopen schien es die Macht des Bösen zu filtern, das Sanchia durch die Mauern strömen fühlte.
    Sie stand auf dem Kai und hörte das stetige Plätschern der Wellen, die unter ihr dahintrieben und sie mitziehen wollten in die Zeit, als sie noch ein Kind gewesen war. Mit geschlossenen Augen ergab sie sich dem Sog der Vergangenheit und erinnerte sich an die Männer in der Baugrube, an ihren Gesang und das Stampfen der Rammen, mit denen sie die Pfähle in den Grund der Lagune senkten. Sie erinnerte sich auch an den Jungen, der bei ihnen stand, an das blaue Feuer in seinen Augen und die klare Unschuld seines Knabengesichts.
    Und plötzlich erkannte sie wieder das Gute in dem Haus. Sie wusste, sie würde es noch deutlicher sehen können, wenn sie ganz hinaufschaute, zum Dach, wo er die Tauben hielt.
    Sie öffnete die Augen und sah sie fliegen, nicht in ihren Gedanken, sondern in der Wirklichkeit. Da waren sie, rotgolden vor dem Licht des Sonnenuntergangs. Scheinbar reglos verhielten sie für die Dauer eines Lidschlags über dem Dach, dann stießen sie herab.
    Die Wellen schwiegen, und für einen Moment war alles still, die ganze Welt hatte aufgehört zu atmen. Das Glas in ihrer Hand wurde heiß, es brannte sich in ihre Haut wie geschmolzenes Silber.
    Das Herz flatterte in ihrer Brust wie ein gefangener Vogel, und die Hitze in ihrer Hand mischte sich mit ihrem herausströmenden Blut. Sie begriff, dass die Taube zwischen ihren Fingern zerbrochen war, und die Scherben, die wie gesplitterter Tau zu Boden rieselten, zogen eine Flut aus ihrem Inneren. Mit einer gewaltigen Welle stieg es in ihr empor und brach heraus, sie spürte es in ihrer Brust, ihrer Kehle und ihren Augen.
    Er war da. Wie vom Grund eines Sees sah sie ihn oben am Rand des Daches stehen und zu ihr herabschauen. Seine Silhouette zeichnete sich unscharf vor dem Abendhimmel ab.
    Sie merkte nur undeutlich, wie sie in die Knie brach, den Kopf zurückgeworfen. All die Tränen, die sich über die Jahre in ihr angesammelt hatten, drängten nun heraus, als hätte die gläserne Taube sie freigegeben.
    Er schrie ihren Namen, so laut, dass seine Stimme von den umliegenden Fassaden widerhallte, und ihr blieb nichts weiter zu tun, als ihn anzuschauen und endlich zu weinen.



Der Mond stand voll und rund zwischen dahintreibenden schwarzen Wolkenfetzen, und irgendwo hinter den Bäumen schrie ein Käuzchen. Dicht nebeneinanderwachsende Zypressen säumten den Hügelkamm und schirmten mit ihren Kronen den nächtlichen Horizont gegen den Himmel ab. Es war windig und kühl, aber nicht so unangenehm, dass man frösteln musste. Sie hatten ihr Lager nördlich von Perugia aufgeschlagen, weit abseits von der nächsten menschlichen Behausung, im Schutze einer leichten Bodensenke, wo sie auch am früheren Abend ein Feuer entzündet und über dem brennenden Holz eine Mahlzeit zubereitet hatten. An einem Bachlauf in der Nähe hatten sie die Pferde tränken können, und dank einer kleinen Schlucht, die ungefähr hundert Schritte in südlicher Richtung lag, waren sie zumindest nach einer Seite hin gegen unerwünschte Annäherungen geschützt.
    »Geht es dir gut?«, fragte Lorenzo bestimmt schon zum dritten Mal seine Frau. »Findest du es nicht zu kalt?«
    »Ich finde es schön. Siehst du nicht den Mond? Und hörst du nicht das Rauschen des Windes und das Murmeln des Baches?«
    »Ich höre es, aber meine Frage hast du nicht beantwortet. Ist dir kalt?«
    »Ich trage ein wollenes Kleid und darüber einen dicken Umhang. Und wir sitzen ziemlich dicht vor einem Feuer. Aber du darfst dich gleich gern vergewissern, ob mir warm genug ist.«
    Er musste grinsen. »Kann es sein, dass du mir frivole Avancen machst? Bist du sicher, dass wir weit genug weg von den anderen sitzen?«
    Sanchia kicherte. »Seit wann hättest du darauf je Rücksicht genommen?«
    Damit hatte sie Recht. Es klappte nicht immer, ein eigenes Lager nur für sie beide abseits von den anderen zu errichten, doch es war ihm meist herzlich egal, ob sie gegen die Regeln der Schicklichkeit

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