Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
sich verstärkt, seit sie erfahren hatte, wie viele unglückliche Gefangene ungeachtet ihres adligen Standes und ihrer bisherigen Macht in den Kerkern der nahen Engelsburg schmachteten – und wie viele von ihnen bereits eines plötzlichen Todes gestorben waren. Ob Graf oder Bischof oder Botschafter – niemand war vor dem Kerker und den damit verbundenen Folgen sicher. Der Name Borgia stand praktisch als Synonym für Giftmord und heimliches Erdrosseln.
Von der Familie selbst hatte Sanchia in der Woche seit ihrer Ankunft niemanden mehr gesehen, und sie war deswegen nicht traurig. Wäre es nach ihr gegangen, hätten sie lieber heute als morgen wieder abreisen können. Leider würde sich ihr Besuch noch eine Weile hinziehen, denn Lorenzo meinte, dass große politische Umwälzungen im Gange seien, die er auf keinen Fall versäumen dürfe. Er lachte über ihre Angst vor Gift und setzte sich sogar regelmäßig mit Seiner Heiligkeit an einen Tisch, weil der Papst es so erwartete. Lorenzo entschuldigte Sanchia mit anhaltender Magenverstimmung; er hatte Seiner Heiligkeit erklärt, dass seine Gemahlin derzeit außer Zwieback nichts essen könne und wegen ihrer allgemeinen Empfindsamkeit tagsüber meist das Bett hüten müsse.
In Wahrheit ging die Gemahlin regelmäßig zur Mittagsstunde in Begleitung von Ercole oder Tsing in die zwischen Palast und Engelsburg gelegenen Borgi oder in das benachbarte Trastevere und kaufte bei einem Straßenkoch eine warme Mahlzeit. Allerdings trug die Art und Weise, wie diese gereicht wurde, nicht unbedingt dazu bei, ihren Appetit zu steigern. Meist bekam man einen Löffel in die Hand gedrückt und musste direkt aus dem Topf essen, bis der Koch einem das Esswerkzeug wieder entriss und es erst gegen weitere Bezahlung wieder herausrückte. Es kam vor, dass anstelle der erwarteten Fleischbeilagen aus dem Gemüse nur Knochen auftauchten oder dass der Fischeintopf hauptsächlich aus Köpfen und Gräten bestand. Manchmal schmeckte es zum Erbarmen, aber immerhin machte alles einen ungiftigen Eindruck. Lieber nahm sie ihr Essen an einer Garküche auf der Straße zu sich als im vornehmen Ambiente notorischer Giftmischer. Am Ende der Woche entdeckte Ercole eine Trattoria, in der man einigermaßen gut essen konnte, und von da an nahmen sie dort ihr Mittagsmahl ein.
Als Lorenzo ihr Anfang Juni mitteilte, dass sie bei einem Kardinal zu einem Abendessen eingeladen waren, stimmte Sanchia freudig zu, ihn zu begleiten. Sie lechzte nach einer Mahlzeit in seiner Gesellschaft und danach, an einem Tisch mit zivilisierten Menschen zu sitzen, die nach dem Essen weder in den Zähnen pulten noch den Teller ableckten.
Natürlich hätte sie auch jederzeit Eleonoras Kochkünste in Anspruch nehmen können, doch praktische Erwägungen hielten sie davon ab. Eleonora ließ in ihrer abergläubischen Angst nicht nach, für die Geburt ihres zweiten Kindes ein Menetekel nach dem anderen an die Wand zu malen. An einem Tag in der letzten Woche hatte Sarpi Sanchia zur Seite genommen.
»Nehmt es mir nicht übel, aber ich glaube, Euer Kommen regt sie jedes Mal mehr auf, als dass es ihr gut täte. Etwas lastet auf ihr, vielleicht die Erinnerung an den verstorbenen Vater von Tino, Gott hab ihn selig.«
Sanchia hatte ihn mit offenem Mund angestarrt und es irgendwie geschafft, sich und Eleonora nicht zu verraten.
»Sobald sie Euch sieht, wird diese Erinnerung anscheinend übermächtig.« Tröstend hatte er hinzugefügt: »Wir wissen natürlich beide, dass es nur eine innere Erregung ist, die mit der Schwangerschaft einhergeht. Frauen in diesem Zustand sind oft nicht ganz bei sich.«
Sanchia hatte es dabei bewenden lassen und Eleonora durch einen Boten mitgeteilt, dass sie schwer erkältet sei und daher eine Weile nicht kommen werde. Sie hatte keine Probleme damit, ihre Zeit trotzdem sinnvoll auszufüllen, denn ein paar Tage nach ihrer Ankunft hatte sie die päpstliche Bibliothek entdeckt, ganze Wände mit Regalen voller Bücher, sowohl alte, handgefertigte Bände als auch die neuesten Druckwerke. Sie hatte beim päpstlichen Zeremonienmeister persönlich die Erlaubnis eingeholt, dort lesen zu dürfen, und seither schwelgte sie so oft wie möglich in erbaulicher Lektüre. Nicht einmal Lorenzos beiläufige Information, dass das meiste davon aus den annektierten Besitztümern der in Ungnade gefallenen Adligen stammte, vermochte sie vom Lesen abzuhalten.
»Wie heißt der Kardinal, bei dem wir eingeladen sind?«, fragte sie Lorenzo am
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