Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
früher hergekommen, aber es waren so viele Dinge zu erledigen. Ich hatte einfach keinen freien Augenblick.«
Er nickte und fragte sich, ob er sehr furchterregend aussah. Der Junge wich seinen Blicken beharrlich aus und schob das Gesicht in die Röcke seiner Mutter.
»Ähm … Ich … Vielleicht magst du mit hereinkommen?«, fragte Pasquale, plötzlich von einer schrecklichen Angst erfüllt, sie könne auf der Stelle wieder verschwinden wollen.
»Natürlich.« Sie zögerte. »Oh, warte. Ich habe dir doch etwas mitgebracht. Tino, rasch, hol den Korb.«
Der Kleine nutzte die Gelegenheit, der peinlichen Situation zu entfliehen. Wendig lief er zum Sàndolo hinüber und ließ sich von dem Bootsmann einen großen Henkelkorb reichen, den er mit wichtiger Miene zu seiner Mutter schleppte.
»Er ist zu schwer für ihn«, sagte Pasquale besorgt.
»Nein, er kann es. Sein Va … Fausto hat gesagt, ich darf ihn nicht verzärteln, und er hat Recht. Tino ist fünf und schon fast ein kleiner Mann.« Sie lächelte krampfhaft und versuchte so, den verräterischen Versprecher ungeschehen zu machen. »Nicht wahr, Tino?«
Der Kleine gab keine Antwort. Stattdessen warf er einen vorsichtigen Blick auf Pasquales Holzbein. »Tut es weh?«
Pasquale grinste unwillkürlich. »Nur, wenn ich schreie.« Er nahm dem Jungen den abgedeckten Korb ab und roch Kuchen und Hühnerbraten.
»Es ist nur ein kleiner Imbiss«, sagte Eleonora verlegen.
»Du kannst es immer noch nicht lassen, Männer mit deinen Kochkünsten in Versuchung zu führen, oder?«
Sie wurde rot. »Ich dachte nur …«
»Schon gut. Es war ein Scherz. Ich freue mich darüber. Meine Köchin ist eher auf schlichte Gerichte spezialisiert. Wenn man nicht alles aus einem Topf essen kann, taugt es nicht viel.«
Er humpelte voraus in die große Wohnküche und blickte sich rasch um. Der Boden hätte sauberer sein können, auf den Dielen lag Kohlenstaub und Sägemehl. Immerhin war das Geschirr ordentlich gespült, und Essensreste vom Vortag standen auch nicht herum.
Er wartete höflich, bis Eleonora an dem großen Tisch Platz genommen hatte. Der Kleine schaute sich unschlüssig um und machte keine Anstalten, sich zu setzen. Wenigstens schien er seine anfängliche Scheu verloren zu haben.
Pasquale musterte ihn, und sein Herz raste wieder, genau wie vorhin. Die störrischen Wirbel am Haaransatz über der Stirn, die dunklen Augen, der mutwillige Ausdruck in dem kleinen Gesicht … Der Junge sah fast noch genauso aus wie auf der Miniatur, die Sanchia ihm mitgebracht hatte. Ein wenig älter natürlich, aber die Gesichtszüge waren unverkennbar dieselben wie auf dem Bild.
Gott, dachte er. Er ist hier, bei mir. Mein Sohn! Ein wildes Glücksgefühl erfasste ihn plötzlich.
Agostino wandte sich zu ihm um. »Kann ich das Glas sehen? Und die Spiegel?«
»Später«, sagte Eleonora.
Pasquale holte Luft. »Wenn du willst, kannst du dich schon mal ein bisschen umschauen. Ich komme dann gleich mit deiner Mutter nach.«
»Aber nichts anfassen!«, sagte Eleonora sofort.
»Keine Sorge, die giftigen Sachen stehen weit oben auf dem Bord, und die Öfen sind nur noch warm. Die fertigen Scheiben sind im Lager eingeschlossen, das Bruchglas ist in Kisten. Er kann nicht viel anstellen.«
Der Junge verschwand wie der Blitz in der Werkstatt. Pasquale starrte ihm hinterher und versuchte, das Brennen herunterzuschlucken, das ihm plötzlich in die Kehle gestiegen war.
»Er ist ein aufgeweckter kleiner Bursche«, sagte er schließlich mühsam.
»Er ist wie du«, sagte Eleonora behutsam. In ihren Augen standen Tränen, als sie ihn anschaute. »Pasquale, es ist schön, dich wiederzusehen.«
Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus.
»Warum bist du hergekommen?«, platzte er schließlich heraus.
Sie dachte nach. »Seinetwegen. Und deinetwegen. Du bist sein Vater und hast ein Recht, ihn zu sehen und seine Bekanntschaft zu machen.«
»Weiß der Junge es?«
Sie schüttelte den Kopf. »Er kennt nur Fausto als seinen Vater. Er war ja noch so klein, und damals dachte ich … Ich ging davon aus, dich nie wiederzusehen. Es war alles so … schwierig. Ich möchte dich auch bitten, nicht mit ihm darüber zu sprechen. Er würde es nicht verstehen, und es wäre auch ihm und Fausto gegenüber nicht recht, denn sie sind wie Vater und Sohn zueinander.«
»Und dein Mann, der Dottore? Weiß er, dass der Vater deines Sohnes noch lebt?«
Sie nickte. »Ich habe mit ihm darüber gesprochen, schon vor drei Jahren,
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