Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
verfügbare Milchmenge während der Stillzeit keineswegs mit dem Volumen der Brust zusammenhing. Dennoch erstaunte es sie immer wieder, dass ihr Körper so viel Milch bildete. Sie musste Chiara nur schreien hören, damit der Milchfluss in Gang kam, und manchmal war der Reflex so stark, dass sie die Handballen auf die Brustwarzen pressen musste, um ihn zu dämpfen.
Das Baby nuckelte kräftig und stetig, und Sanchia betrachtete es zärtlich, während es als kleine, atmende Kugel an ihrem Körper lag. Chiara konnte sich nach Herzenslust strecken und zusammenkrümmen, denn Sanchia wickelte der Kleinen nicht die Glieder, wie es in vielen Familien üblich war, sondern achtete darauf, ihr so weit wie möglich die Bewegungsfreiheit von Ärmchen und Beinchen zu erhalten. Sie kannte zahlreiche Kinder, die auch ohne starre Wickeltechniken starke, gesunde Gliedmaßen entwickelt hatten.
Chiara schlief wie meist beim Trinken ein und hörte auf zu saugen, als sie satt war.
Sanchia küsste die Kleine auf beide Wangen und legte sie in die Wiege, die neben ihrem eigenen Bett stand. Sie vergewisserte sich, dass das zusammengerollte Tuch in Chiaras Rücken richtig anlag, damit die Kleine sich nicht verschlucken konnte, falls sie aufstoßen musste.
Sie hörte ein leises Geräusch hinter sich und fuhr herum. Lorenzo stand in der offenen Tür, und sie lächelte ihn erleichtert an.
»Du hast mich erschreckt!«
Er gab keine Antwort, sondern starrte sie nur an. Sein Gesicht war bleich, seine Züge wirkten eingefallen.
»Ist sie …« Sanchia schluckte. Trotz allem fiel es ihr schwer, es auszusprechen. »Ist sie tot?«
Er schüttelte den Kopf.
»Geht es ihr schlechter? Leidet sie Schmerzen?«
Er schwieg immer noch.
»Meine Güte, was ist denn? Du siehst ja aus wie der wandelnde Tod! Was ist geschehen? Ist etwas mit deinem Bein?« Außer sich vor Besorgnis ging sie auf ihn zu. Er wich unmerklich vor ihr zurück, und sie fühlte eine klauenartige Hand nach ihrem Herzen greifen.
»Sie hat mir die Wahrheit gesagt.«
Seine Worte fielen zwischen sie wie tropfendes Eiswasser.
Sie starrte ihn an, während ihr das Blut schwer und heiß zur Körpermitte strömte und ihre Hände und Füße als taube Klumpen zurückließ. Dann breitete sich die Kälte auch in ihrem Inneren aus, und die Hand, die sich um ihr Herz gekrampft hatte, presste es zusammen, bis sein Schlagen sich in ein schwaches Zucken verwandelte.
»Welche Wahrheit?« Ihr Flüstern klang mühsam.
»Über meinen Vater.«
»Was ist mit ihm?«
»Er ist nicht mein Vater. Er kann keine Kinder zeugen. Ich bin das Ergebnis einer einzigen kleinen Entgleisung, die gleich im ersten Jahr nach der Hochzeit passiert ist. Das war das Geheimnis, das sie nicht länger bewahren wollte. Sie hat es für nötig befunden, ihr Gewissen zu erleichtern, bevor sie diese Welt verlässt.«
»Wer …« Sie konnte die Frage nicht stellen, denn die Antwort war klar. Es gab nur eine Möglichkeit.
In Lorenzos Augen stand wilder Schmerz, gepaart mit einer Wut, die so schrecklich in ihrer Intensität war, dass Sanchia die Knie einknickten. Wie aus weiter Ferne erkannte sie, dass sein Zorn sich nicht gegen sie richtete, sondern gegen seine Mutter, vor allem aber gegen seinen wirklichen Vater, doch das machte es nicht weniger schlimm.
Quälende Bilder tauchten vor ihrem inneren Auge auf. Ein Mann, der sich auf einer schönen blonden Frau bewegte, sie begattete und sie zum Höhepunkt trieb, während eine stille Beobachterin hinter einer spanischen Wand hockte und schamerfüllt das Gesicht zur Seite wandte. Die Frau war Lucrezia Borgia und der Mann ihr Bruder Cesare, sie ergaben sich ihrer inzestuösen Liebe. Sie schrien in gemeinsamer Erfüllung laut auf, und dann, wie in einem zerfließenden Spiegel, verwandelte sich Lucrezias Gesicht in ihr eigenes, und das Antlitz von Cesare wurde zu dem ihres Mannes. Ihres Bruders.
»Nein«, stieß sie hervor. »Nein!« Sie schüttelte heftig den Kopf, als könnte sie das Entsetzliche so aus der Welt schaffen. »Vielleicht hat sie gelogen!«
»Mein Va …« Er unterbrach sich und stieß einen Fluch aus, bevor er fortfuhr. »Giovanni war dabei, als sie es mir erzählte. Er hat es von Anfang an gewusst und auf eine gewisse Art tatsächlich gutgeheißen. Es war ja nur einmal passiert, und es war nicht mal Liebe im Spiel, jedenfalls nicht von Francescos Seite aus. Angeblich hatten beide zu viel Wein getrunken.« Lorenzos Stimme nahm einen höhnischen Unterton an.
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