Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
überlegte Sanchia, die trotz ihrer Müdigkeit ein Grinsen nicht unterdrücken konnte.
»Nein, sie tragen die Briefe nicht im Schnabel, sondern an einem Ring am Fuß!«
»Wollt ihr wohl endlich still sein, ihr Schnattergänse!« Das war die ältere Nonne, die ihren Hund verloren hatte und sich nun offenbar in ihrer Trauer gestört fühlte.
Eleonora ließ sich indessen nicht davon abhalten, ihren Bericht während der Psalmengesänge fortzusetzen. Auf der Chorempore befanden sie sich in einem geschützten Bereich, der vom öffentlichen Teil der Kirche durch ein flechtartig geschnitztes Holzgitter abgetrennt war. Sie konnten von hier aus den Altar, die Seitenbänke und die Reihen der Kirchenbesucher sehen, waren aber ihrerseits vor Blicken geschützt. Natürlich war der Priester beim Altar nicht so weit weg, dass er allzu lautes Geschwätz nicht gehört hätte. So auch in diesem Fall, was besonders ärgerlich war, da Bruder Ambrosio dem Pater beim Zelebrieren der Messe zur Seite stand.
Hin und wieder wandte Ambrosio den Kopf zum Chor hinauf, die Glupschaugen wütend zusammengekniffen. Vermutlich durften sie alle mit einer weiteren harschen Standpauke nach dem Gottesdienst rechnen.
Der Dominikanermönch wurde nie müde, sie mit Bibelzitaten einzuschüchtern und mit den Qualen des Fegefeuers zu drohen. Ein paar der empfindlicheren Mädchen lebten bereits in ständiger Angst vor Exkommunikation und ewiger Verdammnis. Manche von ihnen hatte er so weit unter seine Kontrolle gebracht, dass sie sogar nachts zur Matutin und zur Laudes aufstanden, sehr zum Ärger Albieras, die jedoch gegen diese neue Frömmelei wenig ausrichten konnte. Im letzten Herbst hatte seine Inspektion eine ganze Woche gedauert, und das Ergebnis seiner Untersuchungen hatte den Patriarchen offenbar zu der Überzeugung gebracht, dass regelmäßige Kontrollen im Kloster nicht schaden konnten, denn sonst wäre der Mönch nicht schon wieder hier aufgetaucht.
Albiera hatte die Nonnen angewiesen, während der Dauer seiner Anwesenheit wieder den Habit zu tragen und regelmäßiger zu den Gebeten zu erscheinen, was zusätzlich für Verdruss unter den Mädchen sorgte.
»Und ich sage dir, die Tauben fliegen die ganze Strecke in weniger als zwei Tagen! Der heilige Markus soll mein Zeuge sein!«
Die letzte Bemerkung Eleonoras ging Sanchia nicht aus dem Sinn, als sie nach der Vesper aus der Kirche kam und über den Kreuzgang zu der steinernen Wendeltreppe lief, die außen am Refektorium aufs Dach hinaufführte.
Sie war in Gedanken bereits bei den Tauben, als die Stimme des Mönchs sie zusammenzucken ließ.
»Mein Kind, wohin willst du denn so eilig?«
»Die Tauben versorgen, Frater .«
»Wie ist dein Name?«
Sie war sicher, dass er es bereits wusste, denn in seinen Augen stand ein merkwürdig lauernder Ausdruck.
»Sanchia.«
»Sanchia weiter?«
»Foscari«, sagte sie zurückhaltend. Sie hasste es, mit ihm reden zu müssen. Niemand hatte sie seit ihrer Ankunft hier gezwungen, mehr als nötig zu sprechen. Wenn sie redete, dann meist beim Lesen, obwohl auch das in der letzten Zeit weniger oft nötig war als zu Anfang. Sie konnte mehr und mehr Texte lesen, ohne dabei die Worte laut hersagen zu müssen.
»Wie alt bist du?«
»Neun Jahre.«
»Deine Eltern sind tot, wie man mir sagte.«
Sie nickte.
»Hast du von ihnen dein helles Haar?«
Das war eine Frage, die Sanchia zum Nachdenken brachte. Bianca hatte aschefarbenes Haar gehabt, weder dunkel noch hell. Ihr Vater war blond gewesen, doch hatte dieses Blond vom Farbton her eher altem Honig geglichen, während ihr eigenes Haar wie heller Flachs war.
Ein unerklärlicher Impuls brachte sie dazu, die Frage des Mönchs mit einem Nicken zu beantworten.
»Warum zögerst du?«
»Ich musste nachdenken. Sie sind schon lange tot.« Sie überlegte, ob dies eine Lüge sei, kam aber zu dem Schluss, dass es den Tatsachen entsprach. Für sie hätte es erst gestern gewesen sein können, doch nach objektivem Maßstab war seither viel Zeit vergangen.
»Du tätest gut daran, eine Haube zu tragen. Dein Haar ist sehr auffällig.«
Sie nickte und war erleichtert, dass er das Gespräch offenbar als beendet betrachtete. Doch das war ein Irrtum, wie sich sofort herausstellte.
»Du teilst dir mit einem anderen Mädchen die Zelle, nicht wahr?« Auf ihr Nicken fuhr er fort: »Redet ihr viel miteinander? Schlaft ihr in einem Bett?«
Sie schüttelte auf beide Fragen den Kopf, doch er wollte es genauer wissen.
»Redet ihr viel?
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