Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
lassen.
Nachmittags hatte Bruder Ambrosio einen seiner Rundgänge durch die Schlafkammern unternommen, was wiederum zu erregten Disputen mit einer Gruppe Nonnen geführt hatte, die sich weigerten, ihn in ihre Truhen schauen zu lassen. Eine von ihnen hatte ihn als kranken Kuttenfisch bezeichnet. Als daraufhin ringsum ein verstohlenes, aber deutlich hörbares Gekicher einsetzte, hatte er das Feld geräumt, mit einem Ausdruck in seinen hervortretenden Augen, der auf nichts Gutes hoffen ließ.
Dann war es auch schon Zeit zur Vesper gewesen, und nun kniete Sanchia hier oben auf der Chorempore, nach mehr als einem Tag und einer Nacht ohne Schlaf kaum noch in der Lage, die Augen offen zu halten.
Neben ihr leierten die Nonnen ihre Gebete herunter, und Sanchia murmelte dieselben Worte, eine sinnlose, tonlose Litanei gegen die Müdigkeit.
»Er war letzte Woche in Famagusta«, zischte Eleonora von schräg hinter ihr. Vermutlich redete sie mit Elisabetta, die mindestens so schwatzhaft und neugierig war wie Sanchias Zimmergenossin. Es verging kaum ein Gottesdienst, in dem nicht alle Anwesenden mit halbwegs guten Ohren ausführlich davon in Kenntnis gesetzt wurden, welches der Stand der Dinge bei Eleonoras Verlobung mit dem Caloprini-Erben war. »Dort haben sie einen Teil der mitgeführten Waren gelöscht. Du musst wissen, die Schiffe waren bis an die Ladeluke voll mit kostbaren Gegenständen. Gläser, Seidengewänder, Lederwaren, Schuhe, Wollkleidung, Schmuck – alles, was in der Serenissima hergestellt wird. Auf Zypern befindet sich ein großer Umschlagplatz für den Handel. Aber Lorenzo sagt, die Zukunft liegt mehr im Westen, im Atlantikhandel. Danach sind sie weitergefahren, nach Syrien. Sie haben in Beyrut angelegt, einer ungeheuer großen und geschichtsträchtigen Hafenstadt voll von Moscheen, riesigen Palästen und orientalischen Märkten. Alle leben dort in Frieden miteinander und kommen zusammen, um Handel zu treiben, Völker aller Rassen und Religionen. Er sagt, es sei heiliger Boden.«
Jemand stellte flüsternd eine Frage, die Sanchia nicht verstehen konnte.
»Keine Ahnung, ob die Heilige Familie da gewohnt hat«, gab Eleonora zu. »Jedenfalls haben sie da weiteren Kram ausgeladen und damit eine Karawane ausgestattet, die nach Osten in die Khanate ziehen soll. Von dort kommen andere Karawanen mit Rohstoffen zurück, mit denen dann wiederum die Schiffe beladen werden, die nach Venedig zurückfahren. Das ist das Prinzip. Die Schiffe fahren in Konvois, die man Mudue nennt. Sie sind diesmal mit zehn Schiffen unterwegs, von denen allein drei mit Gütern der Compagnia di Caloprini beladen worden sind. Und als Begleitschutz haben sie zwei schwerbewaffnete Galeeren im Gefolge.«
Sanchia war sicher, dass Eleonora kaum die Hälfte von dem verstand, was sie da von sich gab. Sie konnte alles wortgetreu wiedergeben, was sie las oder hörte, doch wenn es darum ging, die Erzählung zu vertiefen oder Fragen zu beantworten, fiel ihr nichts ein. Sie war eine großartige Schauspielerin, eine hervorragende Köchin – und ein rettungslos romantisches Plappermaul.
Es folgten weitere gemurmelte Fragen.
»Natürlich liebt er mich, du dumme Gans!« Ein Flüstern. Pause. »Ich weiß, dass ich erst elf bin! Aber bald werde ich zwölf, und wie wir alle wissen, wurde unsere Heilige Jungfrau in diesem Alter bereits mit Josef, dem Zimmermann, verheiratet! Ich bin eine Tochter der Serenissima, und niemand ist reicher als mein Großvater! Lorenzo ist der einzige Erbe der Caloprini, ein junger Spross an einem der ältesten Bäume der Stadt! Er ist stark und edel wie unser Symbol: ein Löwe! Ein Löwe der Markusrepublik, der mich zur Frau nehmen wird!«
Ihre Argumentation war zwar schwülstig, fand Sanchia, aber nicht dumm – wenngleich natürlich beträchtliche Lücken darin klafften. So wurde beispielsweise nie geklärt, warum sie schon seit einem halben Jahr im Kloster schmachten musste, wenn sie doch bald einen reichen Erben heiraten sollte. Solche Mädchen waren standesgemäß in Palästen untergebracht und kümmerten sich um ihre Hochzeitsausstattung oder was immer man brauchte, wenn man in eine edle Familie einheiratete.
»Es ist wahr, wenn ich es dir doch sage! Ich erfahre alles, was er mir mitteilt, über die Tauben!« Ein Flüstern, dann ein entnervtes Schnauben. »Nein, natürlich können sie nicht sprechen! Bist du eigentlich so dumm oder stellst du dich nur so an?«
Bei Elisabetta konnte man das nie so genau wissen,
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