Die Mächte des Feuers
»Exzellenz, nur diesen Einsatz noch. Im Namen meiner Brüder.«
»Nein, Großmeisterin. Es wird keine Flüge mehr geben. Wir brauchen mindestens drei Nachkommen von Ihnen, danach dürfen Sie zurück an den Himmel und die Teufel jagen. Drachen werden alt.« Der Erzbischof schaute sie an und lächelte. »Sie werden dann genügend Zeit haben, Ihre Brüder zu rächen. Schüren Sie Ihren Hass und geben Sie ihn an Ihre Kinder weiter.« Er schickte sich an, die Unterredung zu beenden.
»Woher soll ich diesen netten Mann nehmen, Exzellenz? Sendet mir Gott einen, oder woran erkenne ich ihn?« Silena beherrschte sich, sonst würden ihr noch ganz andere Wörter über die Lippen kommen. »Ich werde mich nicht dem Nächstbesten hingeben. Ich muss davon überzeugt sein, dass er alle Eigenschaften mit sich bringt, die ich von ihm erwarte.« Sie trat einen Schritt auf den Erzbischof zu. »Und nicht zuletzt, Exzellenz, muss ich ihn lieben. Dieser Anspruch steht in der Bibel.«
»Sie müssen mich nicht daran erinnern, was in der Heiligen Schrift steht, Großmeisterin.« Er schaute auf sie herab. »Und ich bin auch kein Kirchenmann wie viele der anderen Bischöfe. Ich leite das Officium Draconis. Meine Aufgabe ist es, die Teufel zu bekämpfen, und nicht, hehre Bibelstellen zu zitieren. Das steht denjenigen zu, die in die Kanzel steigen.« Seine Augenbrauen zogen sich zusammen. »Für den Kampf benötige ich Krieger. Piloten. Vor allem Piloten Ihres Schlages, Großmeisterin. Und Sie werden dafür sorgen, dass das Officium welche bekommt.« Er deutete auf die Tür. »Gehen Sie jetzt und sparen Sie sich die Worte, die Ihnen auf der Zunge liegen. Keine Beleidigung, kein Flehen wird mich dazu bringen, den Befehl zurückzunehmen. Sollten Sie keinen passenden Mann finden, lassen Sie es mich wissen. Ich habe einige Kandidaten ins Auge gefasst.«
Silena bebte vor Wut, dennoch gelang es ihr, sich ruhig umzuwenden und das Zimmer zu verlassen, ohne den Erzbischof anzuschreien.
Sie sah es überhaupt nicht ein, sich ein Kind machen zu lassen, sie fühlte sich weder bereit dazu noch in der Lage. Erst wollte sie den Mörder ihrer Brüder tot zu ihren Füßen liegen sehen, und das würde selbst Erzbischof Kattla nicht unterbinden können.
Sie marschierte durch das Officium Draconis, ohne einen klaren Gedanken fassen zu können. Theodor und Demetrius lagen noch nicht unter der Erde, sie hatte keine Gelegenheit gehabt, mit den Witwen zu sprechen, und man verbot ihr, in die Maschine zu steigen. Stattdessen verlangte man von ihr, Kinder zu bekommen. Das alles war zu viel für sie.
Silena hatte keine Augen für die schmiedeeisernen Schmuckleisten in den Ecken oder für die allgegenwärtigen Wasserspeier vor den Fenstern, an denen sie vorbeiging. Europa, darunter auch das Kaiserreich und die bayerische Königshauptstadt, hatten nach der Gründerzeit die Baukunst des Mittelalters neu entdeckt und die moderne Bauweise mit Elementen von einst gekreuzt. Dabei entstanden ehrfurchtgebietende Bauwerke mit düsteren gotischen Elementen, aber auch viel Stahl. Die große Rosette, die vor dem Knick des Korridors hing, war das Meisterwerk eines Kunstschmieds, und ein Glasmacher hatte farbige Scheiben in raffiniertem Arrangement eingezogen.
Als Silena gedankenverloren um die Ecke des Gangs bog, rannte sie in eine andere Frau hinein; Akten fielen auf den Marmorboden und mischten sich zu einem Durcheinander, dazwischen flatterten Fotografien von erlegten Drachen mit entsprechenden Bildunterschriften und Anmerkungen umher.
»Verzeihung«, bat sie und bückte sich, um der Frau zu helfen. Erst als sie die blauen Hosen bemerkte, erkannte sie, wen sie vor sich hatte. »Großmeisterin Martha!«, rief sie erstaunt und erhob sich. Sie streckte die Hand aus. »Wie schön, Sie zu sehen. Ich dachte, Sie wären in Südfrankreich unterwegs, um den nächsten Großen zu erlegen.«
Martha, gut fünfzig Jahre alt und mit der ungeminderten geistigen Rege einer Zwanzigjährigen ausgestattet, lächelte. Sie hatte die langen silbernen Haare zu einem Zopf geflochten und trug eine weiße Bluse mit Stickereien und roten Längsstreifen auf der rechten Brust. »Ich war bereits dort.« Sie hob den Unterarm und zeigte die lange, genähte Wunde. »Dieses Mal hätte er mich beinahe erwischt, Großmeisterin Silena. Ich werde allmählich zu alt. Meine Kinder sollten weitermachen.«
Silena bewunderte Martha. Wie die heilige Martha, von der sie abstammte, bevorzugte sie eine gänzlich andere
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