Die Mächte des Feuers
lächelte. »Einen Tee und ein paar Kekse mit weißer Schokolade bitte«, bat sie und nickte.
»Sehr wohl, Großmeisterin.« Sie eilte davon.
Silena grübelte, hatte automatisch die Münze in der Hand und ließ sie wieder über die Knöchel wandern; das polierte Silber glänzte. Sie stand vor einer schwierigen Entscheidung, die das Leben, wie sie es bislang führte, beenden könnte.
Seit ihrer Geburt war sie von ihren Eltern und dem Officium auf ihre Aufgabe vorbereitet worden. Mit zwölf Jahren und zu Beginn der eigentlichen Adeptenzeit hatte sie bereits zu den besten Pilotinnen der Staffel gehört, ausgebildet von den Brüdern Richthofen. Seit der Weihe zur vollwertigen Drachentöterin mit achtzehn Jahren gab es nichts anderes in ihrem Leben als das Fliegen und die Jagd auf Drachen. Ihre Eltern waren im Krieg gegen diese Monstren gefallen. Ihren Tod hatte sie vor vier Jahren gerächt und das Biest mit ihrer Maschine gehetzt, bis sie ihm den Todesstoß versetzt hatte; die Lanze war mitten durch den hässlichen Kopf gegangen.
Selbstverständliche Pflicht und Rache – eine zweifache Motivation.
Bevor die Bilder der toten Eltern und Brüder aus ihren Erinnerungen aufstiegen, erklangen die Schritte des Mädchens. Sie brachte die Bestellung und zog sich sofort zurück. Es war Silena nicht entgangen, dass das Mädchen auf ihren weißen Kragen mit den Stickereien geschielt hatte.
Silena gab Zucker, dann Milch hinein. Sie liebte es, die verschiedenen Stufen zu schmecken, durch den bitteren Tee hinab zur milden, mit Milch vermengten Ebene zu tauchen, bevor kurz vor dem Erreichen des Bodens die Süße des Zuckers die Zunge traf.
Während sie die Milchwolke betrachtete, die im schwarzen Tee aufquoll, versank sie in ihren Gedanken. Sollte sie die Staffel verlassen, um den Mörder auf eigene Faust zu stellen? Gäbe es für sie dann eine Rückkehr zu den Drachentötern, oder wäre sie auf immer eine Ausgestoßene?
Silena legte die Münze auf den Tisch und schaute hinaus auf den Platz, der im dichter werdenden Schneetreiben immer menschenleerer wurde. Die umhertaumelnden Flocken besaßen etwas Hypnotisches, sie fraßen ihre Gedanken auf und hinterließen eine Leere im Kopf.
Sie sah, wie Martha durch das große Tor des Officiums trat und über den Platz eilte.
Silena blickte nachdenklich in die Teetasse, aber auch dort lag die Antwort nicht verborgen. »Ich habe es euch geschworen«, sagte sie leise, und die Gesichter von Demetrius und Theodor spiegelten sich auf der Oberfläche des Tees. Sie winkte nach der Bedienung und wollte zahlen.
»Sie sind selbstverständlich eingeladen, Großmeisterin«, sagte Marie und verneigte sich vor ihr.
Silena lächelte. »Nein, das möchte ich nicht.«
»Aber ich möchte es, bitte, Großmeisterin«, bestand Marie schüchtern und aufgeregt.
»Nun, dann sage ich vielen Dank.« Sie nahm eine Mark aus der Hosentasche und drückte sie dem Mädchen in die Hand. »Das ist für dich. Und auch ich bestehe darauf.« Silena erhob sich, steckte die Silbermünze ein, warf sich den schwarzen Ledermantel über und zog die langen Stulpenhandschuhe an; auf den Kopf setzte sie den schwarzen Hut. Der rechte Rand war nach der Manier der Großwildjäger nach oben geklappt.
Sie erhaschte die Schlagzeilen der Tageszeitung, die auf einem Ständer neben der Tür hing: »Zeppelinsches Luftschiff beweist erneut Überlegenheit.« Darunter stand zu lesen: »Hugo Eckener steuerte den Zeppelin LZ126 über den Atlantik und zurück, heute wird die Ankunft in Hamburg erwartet. Helium ungefährlicher als Wasse r stoff, aber ebenso tragfähig.«
Den ganzen Artikel ersparte sie sich, stattdessen widmete sie sich dem Bild darunter.
Silena kannte diese fliegenden Zigarren, zweihundert Meter lang und ein Durchmesser von etwa achtundzwanzig Metern. Mit den zweitausend PS der fünf Maybach-Motoren bewegten sie sich recht zügig voran. Sie wusste, dass die Ingenieure des Officiums an einem eigenen Modell arbeiteten. Einem ganz besonderen Modell, auf das sie sich sehr freute, sofern sie in absehbarer Zeit noch zu der Staffel gehörte.
In Gedanken kehrte sie in das weiße Gestöber zurück, zog die Schultern hoch und stellte den Pelzkragen aufrecht, um sich gegen den Wind zu schützen. Nach einigen Schritten wandte sie den Kopf zur Seite, als eine besonders starke Böe ihr den Schnee regelrecht ins Gesicht peitschte, sodass es wehtat. Dabei fiel ihr Blick auf einen Abdruck im frischen Schnee, der tiefrot gefärbt war. Blut?
Weitere Kostenlose Bücher