Die Mächte des Feuers
Silena eilte zu der Stelle, erkannte die Abdrücke von Schuhen sowie einer Hand, als sei jemand ausgerutscht und habe sich vor einem Sturz bewahrt. Doch woher stammte das Blut?
Einen halben Meter weiter sah sie den nächsten Fußabdruck und weitere rote Spritzer. Sie folgte den Spuren. Der dicht fallende Schnee raubte ihr die Sicht. Als sie angestrengt auf den Boden sah, bemerkte sie, dass aus den Fußspuren eine breite Bahn wurde, als hätte sich jemand mit letzter Kraft vorwärts gezogen und dabei immer mehr Blut verloren. Es musste eine tiefe Wunde sein.
Schnee und Wind ließen unvermittelt nach.
Ungefähr in der Mitte des Platzes lag eine Gestalt ausgestreckt, der Schnee um sie herum hatte sich rot gefärbt. Die Flocken bildeten eine dünne Schicht auf den blauen Hosen und dem Mantel.
»Großmeisterin Martha!« Ein heißes Schaudern durchfuhr Silena, sie rannte los und beugte sich über die Frau.
Der Kopf war gründlich zerschmettert worden, das Gesicht bestand aus einer blutigen Masse ohne Konturen, aus der zersplitterte Knochen hervorstanden. »Nein, um Himmels willen!« Die ältere Drachentöterin hätte sofort tot sein müssen, doch war es ihr gelungen, sich vorwärts zu schleppen. Neben ihr lag eine zerborstene, kindgroße Steinfigur, ein sandsteinfarbener Arm mit einem Messer ragte aus dem Schnee.
Silenas Herz pochte panisch, sie hob den Kopf, spähte nach rechts und links. Die Häuserfronten, an denen sich die steinernen Wasserspeier befanden, lagen weit auseinander, kein ihr bekanntes Wesen vermochte eine der zwei Zentner schweren Schmuckfiguren abzubrechen und bis in die Mitte des Marienplatzes zu schleudern.
Niemand – außer einem Drachen!
Wut und Hass jagten durch ihren Körper. Sie war sich sicher, den feigen Täter zu kennen – denjenigen nämlich, der auch ihre beiden Brüder auf dem Gewissen hatte: einer der kleinen Teufel. Er hatte es gewagt, die Drachentöter anzugreifen, und zwar nicht, wie es sich gebührte, im Zweikampf, sondern hinterrücks und ohne jeglichen Anstand.
»Ich kriege dich!«, rief sie, und ihre Stimme kehrte als Echo von den Gebäuden zurück. Ein paar Krähen antworteten ihr. So sehr sie zu den Dächern empor starrte, die hinter dem Schnee verschwammen, sie erkannte nichts. »Ich werde für Ihre Seele beten, Großmeisterin, und Sie ebenso rächen wie meine Brüder«, versprach Silena erregt und stand auf, rannte ins Officium. Ihr Zorn hatte neue Nahrung erhalten und war zu einer unauslöschlichen Flamme geworden, die nach Vergeltung lechzte.
Sobald der Erzbischof in Kenntnis gesetzt war, würde sie mit ihrer Maschine aufsteigen und sich auf die Suche begeben. Diese Morde durften nicht ungestraft bleiben.
6. Januar 1925, Hauptstadt London, Königreich Großbritannien
Constable Edward MacEwan, ein Mann im besten Alter, schlenderte schlagstockschwingend durch die abgedunkelte Eingangshalle des Imperial War Museum. Er gehörte zu den zwölf Bobbies, die eigens zur Bewachung der neuen Ausstellung beordert worden waren. Nach dem Überfall auf das Kunsthistorische Museum waren die Sicherheitsmaßnahmen verstärkt worden. MacEwan fand die Aufgabe äußerst angenehm, denn während seine Kollegen durch die nasskalten Straßen Londons liefen und trotz ihrer Umhänge froren und bis auf die Knochen durchweichten wie trockenes Brot in einer Wasserschüssel, durfte er im Warmen sein und dabei die unzähligen Exponate kostenlos betrachten.
Und es war eine unwirtliche Nacht. Vor den Scheiben zogen dichte Nebelschwaden vorüber, drückten sich wallend gegen die Fenster, als wollten sie das Glas zum Zerspringen bringen; Millionen von Regentropfen prasselten aufs Dach und erschufen ein anhaltendes, gleich bleibendes Rauschen.
MacEwan schüttelte sich. Er nahm seine Taschenuhr aus der Jacke und klappte den Deckel auf. Kurz vor ein Uhr in der Nacht. » God save the Queen: teatime «, sagte er vergnügt und kehrte in den Aufenthaltsraum zurück, aus dem laut und deutlich das helle Pfeifen des Teekessels zu hören war.
»Guten Morgen, Gentlemen«, grüßte er und trat schwungvoll ein, wobei er sich über den schwarzen Schnauzer strich. Sechs Männer in dunklen Uniformen saßen um den runden Tisch herum, hielten mit einer Hand die Unterteller, mit der anderen die Tassen, akkurat vor ihnen standen die Helme. Ein malerischer Anblick. »Gibt es was Neues?«
»Noch mehr Spinner, Sir«, antwortete ihm Franklin, ein breiter Mann um die vierzig mit einem dichten braunen Backenbart, und
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