Die Maechtigen
Aber er war da. Er und Nico und all die anderen … sie haben sich freiwillig gemeldet, lange bevor irgendjemand davon wusste. Dein Vater hat gelebt, Beecher. Und wenn ich mich nicht allzu sehr täusche, könnte er sehr gut immer noch am Leben sein.«
Meine Lippen sind vollkommen ausgetrocknet. Mir dreht sich der Magen um. Sie ist eine Lügnerin. Ich weiß es genau, sie ist eine Lügnerin …
»Überzeug dich doch selbst«, setzt sie hinzu. »Frag sie nach den Unterlagen, okay?« Sie beendet zum dritten Mal einen Satz mit okay, und jedes Mal klingt ihre Stimme ein wenig brüchiger, als würde etwas in ihr zerbrechen und alles durcheinanderbringen, was sie so ordentlich zusammengehalten hat. »Meine Mutter hat mir erzählt, dass die Experimente gut liefen … bis irgendwann alles vollkommen aus dem Ruder lief.«
»Hören Sie ihr nicht zu«, sagt Dallas. »Sie hat das hier monatelang geplant, um Sie zu manipulieren und uns zu erpressen. Sie ist ein noch viel schlimmerer Psychopath als Nico.«
»Beecher, weißt du, welchen Krebs man bei mir festgestellt hat?«, fragt Clementine, als ich mich an die letzten Worte von Nico im Krankenhaus erinnere. Nico hat Gott angefleht, er möge Clementine anders machen als ihn. Sie sollte anders sein. »Es ist ein Krebs, von dem niemand je gehört hat«, fügt sie hinzu. »Noch nie. Jeder Arzt, jeder Spezialist kann dir sagen, dass es mehr als hundertundfünfzig verschiedene Krebsarten gibt, aber meinen Krebs können sie nicht einordnen. Die Mutation ist so riesig, dass ein Arzt es als einen Rechtschreibfehler in der DNA bezeichnet hat. Das haben sie aus meinem Körper gemacht. Und vielleicht auch aus deinem … einen verfluchten Rechtschreibfehler.«
»Beecher, ich weiß, dass Sie ihr glauben wollen«, unterbricht Dallas sie. »Aber hören Sie mir zu: Was sie auch sagt, wir können Ihnen dabei helfen, aus dieser Sache heil herauszukommen.«
»Halten Sie ihn für so dumm? Schließlich seid ihr Klempner an all dem schuld!«, schreit Clementine ihn an.
»Hören Sie endlich damit auf«, erwidert Dallas hartnäckig. »Ich gehöre nicht zu den Klempnern, ich gehöre zum Culperring … ich bin einer von den Guten.«
»Nein«, antwortet eine ganz andere Stimme. Die tiefe Stimme eines Mannes, der hinter uns steht. »Sind Sie nicht.«
Dann klickt etwas leise.
Und anschließend ertönt ein gedämpftes Plopp.
Ein kleiner Blutstrahl spritzt aus Dallas’ Brust. Er taumelt zurück und blickt an sich herunter, ohne die Schussverletzung und das Blut zu bemerken, das aus seiner Brust fließt.
Und noch bevor wir zu unserem Angreifer herumfahren, weiß ich bereits, wer abgedrückt hat: der Mann, dem am meisten daran gelegen sein muss, dass wir uns alle hier draußen versammeln, an einem Ort. Der Mann, der alles tun würde, um an diese Akten zu kommen und der drei Jahrzehnte lang loyal seinen besten Freund geschützt hat.
»Nun sehen Sie mich nicht so überrascht an«, meint Dr. Palmiotti. Seine Augen glühen, als er die Waffe auf uns richtet. »Sie mussten das doch kommen sehen.«
106. Kapitel
»Das ist nicht … Nein …!« Dallas kann kaum noch stehen, aber er hat seine Wunde immer noch nicht bemerkt. »Sie haben mir gesagt … Sie haben gesagt, dass ich für den Culperring …«
Palmiotti antwortet nicht, er tritt nur näher und nimmt ihm grob den Aktenordner aus den Händen. »Sie müssen wissen, mein Junge, dass Sie Ihrem Land gedient haben.«
Dallas schüttelt den Kopf. Er befindet sich in einem Schockzustand.
Ich versuche durchzuatmen, aber die Luft ist völlig verbraucht. Totte hat nur zum Teil recht gehabt. Sicher, Dallas gehörte zu den Klempnern. Aber er hat es nicht gewusst.
»Beecher, begreifst du jetzt, wozu diese Leute fähig sind?«, braust Clementine auf. All ihre Zweifel, ihre Traurigkeit, die ganze Sentimentalität ist plötzlich verschwunden. Wenn sich in den letzten Tagen Clementines Stimmung plötzlich änderte oder sie eine völlig neue Seite von sich offenbarte, habe ich immer gesagt, dass sich eine weitere Tür zu einem neuen Raum in ihr öffnet. Sie hat Dutzende von Räumen in sich. Aber jetzt endlich verstehe ich, dass es nicht um die Anzahl der Räume geht. Es ist egal, wie eindrucksvoll die Räume sind. Oder wie gut dekoriert. Oder wie faszinierend es ist, sie zu betreten. Entscheidend ist, dass jeder einzelne dieser Räume, selbst der allerschönste, diesen unheimlichen Lichtschalter hat. Der sich einfach umlegt. Hin und her schaltet. Ohne jede
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