Die Mädchen (German Edition)
bestimmt, was weiß die schon darüber? Es
stimmt, ich bin nicht so oft mit Sina zusammen getroffen. Sie haben ja sicher
schon festgestellt, dass ich nicht eben eine großer Kinderfreund bin. Aber wenn
man so eine Familie von außen betrachtet und nicht auf den Kopf gefallen ist,
sieht man bestimmte Dinge, die die anderen gar nicht wahrnehmen, weil sie in
ihrer Familienkonstellation irgendwie gefangen sind. In einer Firma nennt man
so etwas übrigens Betriebsblindheit, weshalb man sich bei Konflikten eben oft
Leute von außen holt, die leidenschaftslos analysieren, wo der Hase im Pfeffer
liegt.“
„Sie sprechen von Supervision?“
„Auch. Ich mache das beruflich,
wissen Sie. Und so anders als in einem Unternehmen sind die Konflikte innerhalb
einer Familie ja nicht. In beiden Fällen geht es immer um das Zwischenmenschliche,
das irgendwie nicht harmoniert.“
Der Beruf passte zu ihr, fand er.
Stichwort leidenschaftslos. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie sie ohne
Rücksicht auf deren Gefühle den Mitarbeitern den Marsch blies.
„Also schön, wie würden Sie Sina
beschreiben?“
Sie hatte bereits am Morgen
durchblicken lassen, dass sie Sina weit weniger unschuldig sah als andere
anderen und vielleicht würde sie jetzt deutlicher werden.
„Sie war eine gute Beobachterin,
immer auf der Lauer. Sie gefiel sich in der Rolle des kleinen Mäuschens, das im
Schatten der großen Schwester stand und hat mit diesem Eindruck alle manipuliert,
sodass sie immer ihren Willen durchsetzen konnte. Nach außen hin hat sie so
getan, als ob sie Judith bewunderte. In Wahrheit hat sie sie gehasst.“
„Wie kommen Sie darauf?“
„Weil ich gesehen habe, wie sie
ihre Schwester gemustert hat, wenn sie dachte, es sehe sie niemand. Das war
purer Hass.“
„Und warum?“
„Das weiß ich nicht. Vielleicht
fühlte sie sich zurückgesetzt, vielleicht wurde Judith tatsächlich bevorzugt.
Was sich in Kinderhirnen abspielt, ist für mich zu hoch.“
„In letzter Zeit ist sie ja aus der
Rolle ausgebrochen.“
„Reine Provokation. Sie hätten mal
sehen sollen, wie alle ausgeflippt sind. Und sie hat es genossen, plötzlich mal
im Mittelpunkt zu stehen. Aber ich glaube, es steckte noch was anderes dahinter.“
„Auf den Strich ist sie jedenfalls
nicht gegangen, wenn Sie das meinen.“
Frau Ludwig zog erstaunt die
Augenbrauen hoch. „Das wissen Sie genau?“
„Ja.“
„Dann irgendetwas anderes in der
Richtung. Und ich verwette meinen Arsch darauf, dass Bent etwas damit zu tun
hat.“
Bei dem Fahrgestell musste da ja
einiges zusammenkommen. Glen musste fast über sich selbst lachen. Wieso hegte
er nur solche fiesen Gedanken? Aber diesen Bent mussten sie sich wirklich als
nächstes vorknöpfen. „Sie meinten, er hat die letzte Nacht hier verbracht?“
„Judith hat ihn heimlich
reingeschleust. War ziemlich spät. So gegen zwei oder halb drei.“
„Und wie lange war er hier?“
„Er ist raus, als Sie sich Sinas
Zimmer angesehen haben.“
„Was? Er war noch da, als wir hier
waren? Warum haben Sie uns nichts davon gesagt?“
„Tut mir leid, da hab ich gar nicht
drüber nachgedacht.“
Glen hatte da so seine Zweifel. Er
hatte mittlerweile den Eindruck gewonnen, dass diese Frau über alles, was sie
tat oder nicht tat, sehr genau nachdachte.
„War Frau Keller sehr wütend auf
ihre Schwester?“ schnitt er ein anderes Thema an.
„Weil sie ihr nichts davon gesagt
hatte, dass Sina zu Marius wollte? Nein, hielt sich in Grenzen. Außerdem steht
sie so tief in Birthes Schuld, dass das ziemlich vermessen wäre.“
„Frau Retzlaff macht sich aber
schon ziemliche Vorwürfe.“
Frau Ludwig schnaubte. „Wer’s
glaubt.“
„Sie nicht?“
„Ich denke schon, dass Birthe
schockiert ist, aber wohl eher weil ihr jetzt der Geldhahn zugedreht wird und
nicht weil ihrer Nichte was zugestoßen ist.“
Harte Worte. „Mochten die beiden
sich nicht?“
Sie hob und senkte die Schultern.
„Das kann ich nicht beurteilen. Aber Birthe hat sich nicht aus Nächstenliebe um
die Mädchen gekümmert, soviel steht mal fest.“
„Sie mögen sie nicht.“
„Wir beide kommen nicht so gut
miteinander aus, wahrscheinlich weil Birthe immer ein bisschen eifersüchtig auf
mich ist, weil ich ihr Zeit mit ihrer Schwester stehle. Ich kenne sie ja schon
ewig, da war sie noch ein kleines Kind. Ich bin früher bei denen ein und
ausgegangen. Die Eltern der beiden sind früh gestorben und Almut, die mehr als
fünfzehn Jahre älter ist, hat sich immer
Weitere Kostenlose Bücher