Die Mädchen (German Edition)
Aufmerksamkeit
von seiner Seite hatte sie lange nicht erfahren und unter normalen Umständen
hätte es sie vielleicht gefreut, aber heute hatte sie an nichts anderes denken können,
als dass ihre Tochter verschwunden war und sie unbedingt etwas zu trinken
brauchte.
Jetzt war Simon unter der Dusche
und sie konnte die Gelegenheit nutzen, sich zu holen, wonach ihr Körper seit
Stunden lechzte. Sie musste es einfach riskieren. Wenn sie ganz leise
war, würde er gar nicht mitbekommen, dass sie nach draußen ging, um sich einen
Schluck aus einer der versteckten Flaschen zu genehmigen.
Hatte sie den denn nicht auch verdient?
Immerhin war ihre Tochter verschwunden, ihr kleines Mädchen. Da konnte man es
ihr doch nicht verdenken, wenn sie zur Beruhigung ein kleines Gläschen trank,
oder? Außerdem waren die Polizisten, die sie aufgesucht hatten, auch nicht
gerade einfühlsam mit ihnen umgegangen. Ihr einfach so das Foto des ermordeten
Mädchens zu zeigen. Unglaublich. Sie hatte wirklich gedacht, gleich würde sie
Merle zu Gesicht bekommen. Wie erleichtert sie war, dass ihre Befürchtung sich
nicht bestätigt hatte. Seit jenem Augenblick sehnte sie nach etwas zu Trinken.
Es war kaum auszuhalten gewesen.
Was mochte mit Merle passiert sein?
Dass sie so enden würde, wie das arme Mädchen auf dem Foto, daran wollte sie
lieber nicht denken. Und doch schlich sich dieser Gedanke immer wieder in ihren
Kopf. Wo sollte sie sonst sein? Es gab keine Anzeichen, dass sie vielleicht weggelaufen
war. Vor allem das Geld, das die beiden Kripoleute in ihrem Zimmer gefunden
hatten, sprach dagegen. Hätte sie nicht alles mitgenommen, wenn sie freiwillig
verschwunden war? Nein, viel mehr deutete darauf hin, dass ihr etwas zugestoßen
war.
Und Simon? Der hatte sich mehr als
merkwürdig verhalten. Dass er ihr gegenüber kalt war, war ja nichts Neues,
obwohl sie sich daran einfach nicht gewöhnen konnte und es auch nicht wollte.
Sie würde niemals die Hoffnung aufgeben, dass es zwischen ihnen irgendwann
wieder einmal so werden würde wie früher, auch wenn er ihr noch so wenig Anlass
dazu gab. Aber was Merle betraf, hätte sie heute eine ganz andere Reaktion
erwartet, denn zu Merle war er immer anders gewesen als zu ihr.
Sie war sein kleines Mädchen, sein
ein und alles, wenn er dabei auch offensichtlich verdrängte, dass sie bereits
ziemlich erwachsen war. Wie er mit ihr sprach, konnte man jedenfalls den Eindruck
bekommen, sie war keine zehn Jahre alt. Merle, auf der anderen Seite, forcierte
das mit ihrem Verhalten, war ihr doch sehr daran gelegen, dass ihr Vater sich
möglichst aus ihrem Leben heraushielt. Sie wusste genau, welche Knöpfe sie
drücken musste und sie war eine Meisterin darin, den Hebel umzulegen und ihm
das liebe Mädchen vorzuspielen. Keine Spur mehr von der Feindseligkeit, die sie
ihr gegenüber so häufig an den Tag legte.
Es war beinahe belustigend, die
beiden abends beim Essen zu beobachten, doch Cordula blieb das Lachen im Hals
stecken. Obwohl ihr klar war, dass das alles nur an der Oberfläche blieb,
verspürte sie dennoch nicht selten einen Stich der Eifersucht, wenn sie sah,
wie die beiden miteinander umgingen. Da konnte Simon plötzlich eine
Herzlichkeit zeigen, die sie ihr selbst gegenüber schon so lange vermisste. Oft
war sie sich bei diesen Gelegenheiten regelrecht ausgeschlossen vorgekommen, da
beide keine Anstrengungen unternahmen, sie in irgendeiner Weise einzubeziehen.
Im Normalfall hätte Simon also vor
Sorge umkommen müssen, dass seinem Augapfel womöglich etwas passiert war. Doch
davon hatte sie nichts bemerkt. Im Gegenteil. Nicht nur, dass er den
Kripobeamten, die ihre Arbeit wirklich ernst zu nehmen schienen, im Gegensatz
zu den Polizisten vom Abend zuvor, mehr als feindselig gegenüber getreten war.
Er hatte sich auch nicht die Spur besorgt gezeigt, dass Merle verschwunden war.
Wäre es nach ihm gegangen, hätte die Polizei noch gar nichts von ihrem
Verschwinden erfahren. Nur weil sie nicht locker gelassen hatte, hatte er sie
am Abend angerufen, und das äußerst widerwillig. Klar, er hatte seine Firma im
Kopf und wusste, dass er unmöglich auf Reisen gehen konnte, sobald sie die
Polizei einschalteten, aber schließlich ging es um das Leben ihrer Tochter und
das war ja wohl wichtiger als sämtliche Termine der Welt, auch wenn sie noch so
viel Geld brachten.
Er ihr richtiggehend Angst
eingejagt. Als der Mann ihm das Foto gezeigt hatte, hatte er es sich mit einer
Gelassenheit angesehen, die sie
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