Die Mädchen (German Edition)
Unschuldslamm gewesen. „Bestimmt nicht.“
Damit hatte sie das Thema
abgewürgt, nicht etwa, weil Zoe sich unnötig Sorgen machte, sondern vielmehr,
weil sie nicht darüber nachdenken wollte, was genau da zwischen Marius und ihr
vorgegangen war. Wenn sie das auch erfolgreich verdrängen konnte, der Anblick
ihrer toten Tochter blieb. Folgerichtig geisterte sie in jedem Traum herum, den
sie hatte, wenn sie dann mal eingeschlafen war. Und jedes Mal hatte sie diesen
vorwurfsvollen Ausdruck im Gesicht, der
ihr sagte, dass das alles nicht passiert wäre, wenn sie als ihre Mutter besser
auf sie achtgegeben hätte. Es war einfach nur furchtbar, vor allem, weil es so
wahr war. Die Gewissheit, dass sie mit dieser Schuld bis ans bittere Ende würde
leben müssen, machte sie fertig.
Aber es waren nicht nur ihre
Schuldgefühle, die sie belasteten. Der Fund in der Mülltonne ließ sie einfach
nicht los. Wie zum Teufel, waren Sinas Sachen dorthin geraten? Wer hatte sie da
versteckt? Das waren die Fragen, die ihr im Kopf herumspukten, aber die sie
sich nicht zu beantworten traute, weil die Antwort ihr nicht gefallen würde.
Sie hatte niemandem davon erzählt,
nicht Zoe und auch Judith nicht, sondern einfach die Kleidungsstücke genommen
und in das kleine Sideboard geworfen, das sie in der Garage stehen hatte. Sie
wusste, dass sie sich dabei strafbar machte, weil sie mit Beweismaterial
herumspielte, aber was hätte sie tun sollen? Hauptkommissar Funke rufen, der
sie sowieso schon immer so misstrauisch beäugte? Nein, da wollte sie der Sache
lieber selbst auf den Grund gehen.
Über ihren mit Kirschmarmelade
bestrichenen Toast hinweg sah sie ihrer Tochter dabei zu, wie sie sich einen
Becher Kaffee eingoss und gleichzeitig am Handy hing, um ihrer Freundin zu sagen,
dass sie immer noch nicht zur Schule kommen würde.
„Du bleibst noch zu Hause?“ fragte
sie sie, nachdem sie aufgelegt hatte.
„Ja.“ Judith setzte sich zu ihr an
den Tisch und nahm einen kräftigen Schluck aus ihrem Becher. „Ich bin bis
Freitag krank geschrieben. Ganz offiziell. Mit Attest und allem.“ Sie verzog
das Gesicht. „Wegen der Matheklausur, die ich versäumt hab.“
„Du weißt, dass du meinetwegen
nicht hier bleiben musst. Ich denke, ich komme ein paar Stunden auch allein
klar.“
Judith zuckte mit den Schultern.
„Aber ich mach es trotzdem. Ich könnte mich ja ohnehin auf nichts konzentrieren
und blöd rumsitzen kann ich auch zu Hause.“
Da war was Wahres dran. Eine Weile
saßen sie schweigend beieinander, dann hielt Almut es nicht mehr aus.
„Weißt du, Judith, mir ist vorhin
eingefallen, dass ich gar nicht weiß, ob du am Mittwoch noch mit Sina
gesprochen hast.“
Judith stellte abrupt den Becher
ab. „Du hast mich nicht gefragt.“
„Und? Hast du?“
Judith runzelte die Stirn. „Wenn
ja, dann war es nichts Wichtiges. Ich glaube, ich habe ihr gesagt, dass ich zu
Bent fahre. Und sie meinte, dass Birthe wohl gleich mit Essen kommen würde.“
„Was nicht der Fall war, wie wir
jetzt wissen.“
„Vielleicht war das aber auch am
Dienstag. Ich weiß es nicht. Ist das so wichtig?“ Ihr Ton klang genervt.
„Ich würde zu gern wissen, was sie
vorgehabt hat.“
„Mir hat sie nichts gesagt, wenn du
darauf anspielst.“ Jetzt war sie ein wenig zickig.
„Und dir ist nichts aufgefallen?
Sie war wie immer?“
„Ja.“
„Hatte sie in der letzten Zeit mal
Besuch hier?“
Judith stand auf und goss sich noch
einmal Kaffee nach. „Keine Ahnung. Warum fragst du?“
„Vielleicht hat sie ja am Mittwoch
auch Besuch erwartet.“
„Mama, was soll das bringen? Ich
weiß nicht, was Sina gemacht hat und ich weiß nicht, ob sie Besuch erwartet
hat. Ich wusste eigentlich kaum etwas über sie. Ich hatte ja nicht einmal eine
Ahnung, dass sie was mit Bent zu schaffen hatte.“
Das Läuten an der Haustür hinderte
Almut an einer Erwiderung.
„Ich geh schon“, sagte ihre Tochter
und sprang auf.
Almut trank einen Schluck Kaffee
und strich sich gedankenversunken durch ihr Haar. Warum hatte Judith so heftig
reagiert? Hatte sie einen wunden Punkt getroffen? Oder ging ihr die Sache mit
Bent doch näher, als sie zugeben mochte? In jedem Fall war sie erleichtert,
dass das Türklingeln ihr die Möglichkeit gab, sich zunächst vor weiteren Fragen
zu drücken.
Sie war überrascht, als Judith mit
den beiden Beamten in der Küche auftauchten, die sie nun schon so gut kannte.
Sie sahen müde aus, alle beide, aber sie hatte kein Mitleid. Ihre
Weitere Kostenlose Bücher