Die Mädchen (German Edition)
hab keine
Ahnung, wie ich damit umgehen soll.“
Timo ließ den Blick über die
Gestalt in dem Bett wandern und eine ungeheure Traurigkeit überfiel ihn. Wie
gern hätte er einfach nur mal die Stimme seines Bruders gehört. Aber selbst das
war ihm nicht vergönnt, weil dieser Fanatiker den Tod seiner Schwester rächen
wollte. Als ob er durch die Jahre im Gefängnis nicht schon genug durchgemacht
hatte. Er nahm sich einen Stuhl und setzte sich neben Frau Tuchel.
„Die Ärzte haben mir gesagt, dass
es keine Hoffnung mehr gibt, dass Christopher irgendwann noch einmal aufwacht.“
Timo nickte nur. Ihm hatte man schon
das gleiche mitgeteilt.
„Es ist nur eine Frage der Zeit,
wann seine inneren Organe versagen. Die Ärzte meinten, es wäre besser, die
Geräte abzuschalten, als darauf zu warten, bis es von selbst zu Ende geht, aber
ich bin noch nicht dazu bereit.“
Timo wusste nicht, was er sagen
sollte. Es musste schwer sein, solch eine Entscheidung zu treffen, vor allem
als Mutter. Auch wenn sie sich hundertmal sagen würde, dass der Körper im Bett
vor ihr nichts mehr mit ihrem Sohn zu tun hatte, und der Zustand von jemand
anderem hervorgerufen worden war, würde sie es sein, die dem Leiden ein Ende
bereitete. Sie hatte die Verantwortung, den Stecker zu ziehen, und würde damit
das Schicksal endgültig besiegeln. Furchtbar!
„Ich rede mit ihm.“ Sie nickte.
„Die ganze Zeit. Erzähle ihm, was ich gemacht habe. Ich hab ihm auch gesagt,
dass der Mann gefasst ist, der ihm das angetan hat.“ Sie hob die rechte Hand.
„Ich weiß, dass er mich nicht hören kann, aber mich beruhigt es. Und ich habe
das Gefühl, ich bin es ihm schuldig, ihm so viel Aufmerksamkeit zu schenken wie
möglich.“
„Ich weiß, was Sie meinen. Ich hab
auch mit ihm gesprochen, als ich neulich hier war.“
Sie griff nach seiner Hand. „Ich
bin froh, dass Sie da sind. Ehrlich. Es tut gut zu wissen, dass es noch
jemanden gibt, der um ihn trauert.“
„Ich hab irgendwie das Gefühl, dass
sich alles wiederholt.“
„Sie sprechen von Ihrem Vater.“
„Ja. Die Prognose war ganz anders,
aber letztendlich hat er es auch nicht geschafft.“
„Sie müssen nicht hier bleiben,
wenn es Ihnen zu schwer fällt.“
Er drückte ihre Hand. „Nein. Ist
schon gut.“
Sie sah ihn an. „Sie sind anders
als Ihr Vater.“
Er begegnete ihrem Blick. „Wie
meinen Sie das?“
„Zunächst mal haben Sie Herz. Und
Sie sind bereit, Verantwortung zu übernehmen, nicht nur für sich, sondern auch
für andere.“
Schuldbewusst dachte er an Doreen
und Luisa und in welche Situation er sie alle drei gebracht hatte. „Ich glaube,
Sie überschätzen mich.“
„Das finde ich nicht. Sie hätten ja
auch alles auf sich beruhen lassen können, denn außer Ihrem Vater wusste ja
niemand von dem Geld, das er angelegt hat. Aber das haben Sie nicht getan.“
„Das hätte ich niemals gekonnt.“
„Sehen Sie?“ Sie seufzte. „Ich
möchte mich übrigens noch bei Ihnen entschuldigen.“
„Was? Wofür das denn?“
„Dass ich Ihnen Ihren Bruder vorenthalten
habe.“
Er lehnte sich in dem Stuhl zurück.
„Sie müssen sich nicht entschuldigen. Ich finde, es wäre die Aufgabe meines
Vaters gewesen, mir davon zu erzählen.“
Sie hob ihre Hand. „Bitte. Bei
Christopher kann ich mich dafür nicht mehr entschuldigen, also lassen Sie es
mich bei Ihnen tun.“
„Okay.“ Wenn sie es denn unbedingt
wollte.
„Ich habe ein furchtbar schlechtes
Gewissen, wissen Sie. Vielleicht hätte ich Christopher über seinen Vater
aufklären müssen.“
Timo wusste nicht, was er dazu
sagen sollte. Wie auch? Schließlich war er ein Beteiligter. Es hätte wohl sein
ganzes Leben verändert, wenn Frau Tuchel die Vaterschaft öffentlich gemacht
hätte. Welche Konsequenzen das nach sich gezogen hätte, konnte er gar nicht
überblicken. Wer wusste denn beispielsweise, ob seine Eltern sich nicht
daraufhin getrennt hätten?
„Sie glauben gar nicht, wie oft ich
daran gedacht habe, als er im Gefängnis saß. Wäre es nicht besser gewesen,
beide Eltern an seiner Seite zu wissen?“
„Aber Sie haben keinen Kontakt zu
meinem Vater aufgenommen.“
„Nein. Meinetwegen. Ich wollte
nicht als Bittstellerin bei ihm auftauchen.“
Ihr Stolz hatte ihr sicher häufiger
mal ein paar Wege verbaut. „Vielleicht wäre das auch nicht der richtige
Zeitpunkt für Christopher gewesen, seinen Vater kennen zu lernen.“
„Kann sein.“ Sie stieß erneut ein
Seufzen aus. „Es tut so gut, mal mit
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