Die Mädchen (German Edition)
jemandem zu reden.“
„Ich bin froh, wenn ich etwas für
Sie tun kann.“
Eine Weile saßen sie schweigend
nebeneinander, das einzige Geräusch im Raum das regelmäßige Pumpen der
Beatmungsmaschine.
„Es gibt noch einen Grund, warum
ich mich sträube, die Patientenverfügung zu unterschreiben. Ich hab das Gefühl,
ich würde Christopher damit noch einmal verraten oder im Stich lassen.“
Timo verstand nicht. „Wie meinen
Sie das? Sie waren doch immer für ihn da.“
Sie stieß ein freudloses Lachen
aus. „Oberflächlich vielleicht. Ja klar, ich war im Gefängnis und hab ihn
besucht. Ich hab Anwälte bezahlt, um ihm zu helfen. Aber hier drin...“ Sie
klopfte auf ihre linke Brust. „Hier drin wusste ich immer, dass er das Mädchen
damals ermordet hat.“
Timo zog die Luft ein. Damit hatte
er nicht gerechnet. „Warum? Wie konnten Sie da so sicher sein?“
„Er hatte einen Hang zu jungen
Mädchen.“
„Na ja, er war doch damals
ebenfalls erst zwanzig.“
„Mit jung meine ich, richtig jung,
vierzehn und jünger.“
Timo verstand. „Gab es schon andere
Vorfälle?“
„Einen. Zumindest von dem ich weiß.
In dem Dorf, in dem wir in Bayern gewohnt haben. Ein zwölfjähriges Mädchen.“
Ihm wurde ganz unwohl. „Er hat sie
vergewaltigt?“
„Beide haben gesagt, dass es aus
freien Stücken passiert ist. Aus Liebe. Aber die Eltern des Mädchens haben nur
von einer Anzeige abgesehen, weil ich eingewilligt habe, wegzuziehen. Und zwar
weit weg.“
„Deshalb sind Sie zurück nach
Lübeck.“
„Ja.“ Sie sah ihn mit
entschuldigender Miene an. „Da war ich neulich nicht ganz ehrlich zu Ihnen, als
ich sagte, der Tod meiner Eltern wäre die Ursache für unsere Rückkehr gewesen.“
Er wischte dies mit einer
Handbewegung weg. „Und Sie haben Ihrem Sohn nicht geglaubt?“
„Herr Hansen, das Mädchen war
zwölf.“
Klar. Ein Mädchen in dem Alter war
leicht beeinflussbar und das konnte schnell von einem älteren Jungen ausgenutzt
werden, dem es um Sex ging.
„Und dann passierte das mit
Stella.“
„Kannten Sie sie?“
„Stella? Nein. Aber den Namen werde
ich wohl nie vergessen. Jedenfalls wusste ich sofort, dass alles stimmte, was
man Chris vorwarf.“
„Aber die alte Geschichte kam nicht
zur Sprache.“
„Nein. Zum Glück hat niemand davon
erfahren, sonst wäre die Strafe womöglich noch höher ausgefallen.“
„Sie haben Ihrem Sohn aber nie
gesagt, dass Sie ihn für schuldig halten, oder?“
Sie schüttelte den Kopf. „Im
Gegenteil. Ich hab immer wieder auf seine Unschuld hingewiesen, bis er mich
gebeten hat, es zu lassen, weil er die Strafe verdient hätte.“
Das war so mehr oder weniger das
gleiche, das er auch im Gefängnis gesagt hatte.
„Wie war das für Sie, als er
entlassen wurde?“
„Ganz ehrlich? Mir war mulmig. Ich
hab die ersten Nächte sogar meine Schlafzimmertür abgeschlossen.“ Sie deutete
seinen Blick richtig. „Ich weiß, total bescheuert. Als ob ich vor ihm Angst
hätte haben müssen.“
Timo hatte im Vorwege lange
überlegt, wie er die Sprache darauf bringen sollte, wann der richtige Moment
dafür war. Jetzt hatte Frau Tuchel selbst angefangen, über den Mord damals zu
reden und gab ihm damit eine Gelegenheit, ganz beiläufig den Grund
anzusprechen, warum er überhaupt gekommen war.
„Christopher hatte damals eine
Freundin, oder?“
Sie sah ihn an. „Sie haben sich
nachträglich mit dem Fall beschäftigt?“
„Ja. Ich hab versucht, so viel wie
möglich über meinen Bruder in Erfahrung zu bringen.“
„Kann ich verstehen. Ja, er hatte
eine Freundin. Marina.“
„Sie kannten sie?“
„Natürlich, sie war ja seine feste
Freundin und deshalb auch häufiger bei uns zu Hause. Sie war knapp achtzehn.
Und ich war richtig glücklich, dass er sich langsam seinem eigenen Alter annäherte.“
„Wie ist die Sache ausgegangen? Hat
sie mit ihm Schluss gemacht, als er im Gefängnis war?“
„Ob sie ihn im Gefängnis besucht
hat, weiß ich nicht, aber das war auch nicht nötig. Sie hat vor Gericht gegen
ihn ausgesagt. Die Details lass ich lieber mal weg.“
„Ich kann mir vorstellen, dass sich
die Presse damals ziemlich auf sie gestürzt hat.“
„Kann schon sein.“ Ihre Stimme
klang gleichgültig und Timos Hoffnung schwand.
„Wissen Sie, was aus ihr geworden
ist?“
„Nicht wirklich, nein. Wir hatten
danach natürlich keinen Kontakt mehr, wie Sie sich vorstellen können.“ Sie zog
die Stirn kraus. „Soweit ich mich erinnern
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