Die Mädchen (German Edition)
Morgen musste er darauf
verzichten, so sehr er sich auch wünschte, es wäre nicht so. Dabei hatte er
seinen ersten Arbeitstag absichtlich auf einen Donnerstag gelegt, in der Hoffnung,
es ruhig angehen lassen zu können, weil das Wochenende nicht mehr weit entfernt
war, aber das war jetzt wohl nichts. Sein Chef Holger Funke hatte ihn soeben zu
einem Leichenfundort gerufen und das ließ sich beim besten Willen nicht aufschieben,
auch wenn sein Dienst offiziell erst in gut drei Stunden anfing.
Nach einem weiteren Kuss und einer
engen Umarmung entzog er sich ihr. „Ich muss.“
Sie seufzte und zog die Bettdecke
enger um sich. „Ich weiß.“
Er sah, wie sie sich in die Decke
kuschelte und wäre am liebsten wieder zu ihr ins Bett gesprungen, aber er hielt
sich zurück, wenn auch nur mühsam.
„Schlaf noch ein bisschen. Ich zieh
mich nebenan an.“
„Ist gut“, sagte sie und ihre
Stimme klang schon wieder ein wenig schläfrig. Es war klar, dass sie nicht
lange brauchen würde, um im Land der Träume anzukommen. „Grüß die anderen und
sag deinem Boss, dass er das nächste Mal für einen Ersatz sorgen muss, wenn er
dich noch mal mitten in der Nacht aus dem Bett klingelt.“
„Mach ich“, grinste er und überließ
sie sich selbst.
Eine gute Viertelstunde später saß
er frisch geduscht und rasiert in seinem Wagen und lenkte ihn von der Auffahrt
der Reihenhauszeile auf die Straße. Beim Abbiegen fiel sein Blick auf sein Gesicht
im Rückspiegel und er zuckte unwillkürlich zusammen. Es war nach wie vor
ungewohnt ohne seinen Schnurrbart. Er strich sich über seine Oberlippe. Wie
anders es sich anfühlte. Und wenn er auch zugeben musste, dass Johanna Recht
hatte, wenn sie behauptete, es machte ihn um Jahre jünger, vermisste er doch
den Bart, den er so lange sorgfältig gezüchtet hatte. Er hatte die Pflege
regelrecht zelebriert, sodass andere es sicher als übertrieben und albern
bezeichnet hätten. Aber er war eben immer besonders stolz auf ihn gewesen, er
kannte niemanden mit einem ähnlichen Exemplar, außer vielleicht diesem
Pseudoanwalt aus dem Fernsehen, und ohne ihn fühlte er sich irgendwie nackt,
entblößt. Nein, er konnte sich mit seinem neuen Spiegelbild einfach nicht
anfreunden.
Er bereute zutiefst, dass er am
vergangenen Wochenende dieser bescheuerten Wette zugestimmt hatte. Dabei
wettete er sonst nie, hatte dem Ganzen noch nie etwas abgewinnen können, aber
er war leicht beschwipst gewesen und überzeugt davon, dass er Recht hatte. Nur
deshalb war er darauf eingestiegen und prompt auf die Schnauze gefallen. Seine
Schwester und ihr Mann waren Johannas Einladung zu einem Abendessen bei ihnen
zu Hause gefolgt. Johanna wollte die beiden bitten, die Patenschaft für ihr
Kind zu übernehmen und als Rahmen dafür schien ihr ein gemütliches Essen
angemessen. Er selbst hatte gemeint, sie könnte das genauso gut übers Telefon
erledigen, aber davon wollte Johanna nichts hören. Sein Argument, dass sie mit
ihrem Vorgehen die beiden geradezu nötigte, ihre Bitte anzunehmen, ließ sie
nicht gelten. Er selbst hatte schon ein paar Mal das drohende Unheil abbiegen
können, weil er sich am Telefon schnell eine Ausrede hatte einfallen lassen
können, und fand, dass man jedem die Chance lassen musste, mit Anstand ablehnen
zu können, was von Angesicht zu Angesicht weit schwieriger war. Was sollten die
beiden anderes tun, als anzunehmen, wenn sie den gemeinsamen Abend nicht im
Fiasko enden lassen wollten, weil sie ihre Gastgeber enttäuschten?
Nicht jeder war scharf auf so eine
Aufgabe, bedeutet sie doch auch immer ein gewisses Maß an Verantwortung. Na,
wie er es von seinen Kollegen gehört hatte, endete es hauptsächlich in unzähligen
finanziellen Aufgaben, auch wenn die Eltern zuvor noch so sehr bekundet hatten,
dass man sich auf keinen Fall zu etwas verpflichtet fühlen sollte. Es gab ja
kaum einen Anlass, für den kein Geschenk vom Paten vorausgesetzt wurde,
angefangen bei Geburtstag und erstem Schultag bis hin zum Verlust des ersten
Milchzahns. Besonders unter Freunden konnte sich die ganze Geschichte mit der
Patenschaft als Bumerang entpuppen. Immerhin band man sich damit ziemlich eng
aneinander und wenn man mit den Eltern eigentlich nicht mehr befreundet sein
wollte, weil etwas vorgefallen war oder weil man sich einfach voneinander
entfernt hatte, hatte man trotzdem noch Verbindung, weil man irgendwie das Gör
am Hals hatte.
Nein, er konnte jeden verstehen,
der dazu keine Lust hatte. Aber Johanna
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