Die Mädchen (German Edition)
hingenommen hätte, was Sina ihr erzählt hatte, hätte das alles
verhindert werden können.
Es war schon ein wenig ungerecht,
dass sie beide versuchten, die Verantwortung so weit wie möglich von sich zu
schieben, denn immerhin war Sina ihre Tochter. Wenn sie sich mehr mit ihr
beschäftigt hätten, hätten sie sich jetzt nicht fragen müssen, wo sie steckte.
Aber das war natürlich nicht möglich. Es war doch alles bequem, so wie es abgelaufen
war. Almut konnte arbeiten oder weiß Gott was tun und Marius konnte sich um
sein neues Frauchen kümmern, da war für Kinder und deren Probleme kein Platz.
Da passte es doch gut, wenn man eine Schwester oder Schwägerin hatte, die immer
zur Stelle war.
Wie wäre es da mit ein bisschen
Dankbarkeit? Hatte sie nicht ein Anrecht darauf? Was wäre denn gewesen, wenn
sie nicht für die Mädchen da gewesen wäre? Wer außer ihr hatte sich denn in den
letzten Jahren wirklich gekümmert, war da, wenn Sina mal Sorgen gehabt hatte?
Sie waren doch beide mehr als erleichtert gewesen, dass sie ihnen alles abnahm.
Und jetzt, wo etwas schief lief, war es ja klar, dass sie es ihr in die Schuhe
schieben wollten. Sie gab den perfekten Sündenbock ab. Aber sie war nicht
gewillt, das alles so ohne weiteres hinzunehmen.
Ja, das sagte sich alles so leicht,
aber so einfach war das natürlich nicht. Mit ihren Vorwürfen trafen sie bei ihr
genau ins Schwarze. Ihr schlechtes Gewissen nagte jede Sekunde an ihr. Sie
zermarterte sich das Hirn, was genau schief gelaufen war, was sie hätte anders
machen können, aber sie kam zu keinem Ergebnis.
„Und?“
Birthe schrak zusammen, als das
Licht im Flur anging. „Hast du mich erschreckt. Ich dachte, du schläfst.“
Ole stand im Türrahmen zum
Wohnzimmer und zog die Augenbrauen hoch. „Du glaubst doch nicht im Ernst, dass
ich hätte schlafen können?“
Natürlich nicht. Das hätte ihr
eigentlich klar sein müssen. Sie schloss die Tür, steckte den Schlüssel von
innen ins Schloss und drehte ihn zweimal herum.
„Ach, ich weiß auch nicht.“
„Gibt es denn etwas Neues?“
Birthe hängte ihre Jacke an die
Garderobe und schüttelte den Kopf. „Nichts.“
Ole kam auf sie zu und legte den
Arm um sie. Das war zuviel. Den Kopf an seine Schulter gelehnt, brach sie in
Tränen aus. Es war, als ob alles, was sie bislang krampfhaft zurückgehalten
hatte, plötzlich aus ihr heraussprudelte.
„Sch..., ist ja gut“, flüsterte Ole
ihr ins Ohr. Er führte sie ins Wohnzimmer und setzte sich mit ihr auf die
Couch. Sie ließ es geschehen. Sämtliche Energie schien aus ihrem Körper
entwichen zu sein. Nach ein paar Minuten hatte sie sich ein wenig beruhigt und
Ole reichte ihr ein Taschentuch.
„Sie ist tatsächlich weg?“
Sie nickte, während sie ins
Taschentuch schnaubte.
„Ist sie abgehauen?“
„Das meint die Polizei.“
Er machte große Augen. „Die Polizei
war da?“
„Erst hat Almut ihre Freundinnen
gefragt, ob die was wissen, aber die hatten alle keine Ahnung. Dann wurde es
Marius zuviel. Er hat bei der Polizei angerufen und darauf bestanden, dass jemand
zu uns kommt. Er meinte, die wollten ihn abwimmeln, aber er hat ordentlich
Druck gemacht. Na, du kennst ihn ja. Etwas später kamen dann jedenfalls zwei
Beamte in Uniform. Die haben auch alles aufgenommen, aber irgendwie waren die
nicht so richtig bei der Sache.“
„Was meinst du?“
„Ich weiß auch nicht. Nur so ein
Gefühl. Sie haben sich alles ganz ruhig angehört und notiert, auch ein paar
Fragen gestellt, aber auf mich machte es den Eindruck, als ob sie es für ein
häusliches Problem hielten. Sie rechnen wahrscheinlich damit, dass Sina morgen
wieder auftaucht.“
„Und du?“
Sie kommt nicht wieder. Ihr ist
etwas zugestoßen. „Ich weiß es nicht. Ich glaube nicht, dass sie nur
abgehauen ist. Sie hat nur ihren kleinen Rucksack mit, sonst nichts. Stell dir
vor, Almut wusste nicht einmal, dass sie so einen besitzt.“
Ole zuckte nur mit den Achseln.
„Das wundert mich nun wieder gar nicht, so wenig, wie sie mit ihren Töchtern
zusammen ist.“ Er runzelte die Stirn. „Aber wenn Sina keine Sachen mitgenommen
hat, wie kommt die Polizei dann darauf, dass sie abgehauen ist?“
Sie schnaubte erneut aus. „Ich
nehme an, die ganze Situation, die sie vorgefunden haben.“ Sie zählte an den
Fingern ab. „Du weißt schon, die Eltern geschieden, beide wenig Zeit, die
Mutter jeden Abend spät zu Hause, der Vater mit jüngerer Freundin. Und
zwischendrin eine pubertierende
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