Die Mädchen (German Edition)
wohl
eher unwahrscheinlich. Aber das machte die Sache nicht leichter. Für die einen
Eltern würde eine Welt zusammen brechen, die anderen würden erneut Hoffnung
schöpfen, dass ihr Kind wieder wohlbehalten bei ihnen auftauchen würde, und
weiter in Ungewissheit leben.
Und ihm und seinen Kollegen würde
die Hölle heiß gemacht werden, dass man erstens versäumt hatte, das
Verschwinden ernst zu nehmen und dass man zweitens auf jeden Fall einen zweiten
Mord verhindern musste, auch wenn das alles gar nichts miteinander zu tun
hatte.
Er gab sich keinen Illusionen hin.
Spätestens am Samstag würde er in der Zeitung von einem Zusammenhang lesen
können, soviel stand fest. Er verfluchte den ganzen Mist. Warum verstand die
Presse nicht, dass es zwar Pressefreiheit gab, dass man sie aber auch sinnvoll
einsetzen konnte? In Fällen wie diesen behinderte die Presse lediglich ihre
Ermittlungen.
„Bevor du losfährst, kannst du mir
mal den Ausdruck geben?“ fragte sein Kollege Glen Behrend, der neben ihm saß.
Funke griff in die Innentasche seiner Lederjacke und reichte ihm den Zettel,
den ihm die Kollegen vom Erkennungsdienst gegeben hatten. Sie hatten sofort im
Computer nach Vermisstenmeldungen gesucht und die in Frage kommenden
ausgedruckt. Behrend warf einen Blick darauf. „Sina Keller“, las er vor. „Vierzehn
Jahre alt, etwa einsfünfundsechzig, blond und schlank. Vermisst gemeldet vom
Vater gestern Abend um halb elf. Zuletzt gesehen am Nachmittag gegen halb
zwei.“ Er hob den Kopf. „Kannst du mir mal sagen, warum den Leuten so spät auffällt,
dass ihre vierzehnjährige Tochter nicht zu Hause ist?“
Funke hatte die Hand am Schlüssel,
um zu starten und hielt in der Bewegung inne. Er starrte seinen Partner an.
„Ist das dein Ernst? Hast du vergessen, wie das mit Vicky war?“
Seine Tochter Vicky war vor einiger
Zeit selbstverschuldet in Lebensgefahr geraten, und sie hatten nicht einmal
bemerkt, dass sie gar nicht zu Hause war, weil sie einen Trick angewandt hatte,
um sich heimlich aus dem Haus zu schleichen.
Er sah Behrend erröten. „Sorry,
daran hatte ich gar nicht gedacht. Wie geht es ihr eigentlich? Du hast lange
nichts von ihr erzählt.“
Er ließ den Motor an und legte den
Rückwärtsgang ein, um den Parkstreifen zu verlassen.
„Sie ist ein wenig verschlossener
als vor dieser Sache, aber ich denke, so langsam wird es wieder.“
Das hörte sich etwas harmloser an,
als er es tatsächlich erlebt hatte. Vicky hatte sich in den ersten Wochen
danach regelrecht eingeigelt. Sie verließ kaum noch ihr Zimmer und zur Schule
ging sie nur in Begleitung ihres großen Bruders Kevin und wenn der verhindert
war, bestand sie darauf, gefahren zu werden. Maggie und er hatten sich
ernsthafte Sorgen gemacht, vor allem weil sie nicht mit ihnen redete. Er hatte
schon überlegt, die Kosten für den Psychotherapeuten zu sparen und die
Sitzungen abzublasen, weil trotz unzähliger Termine keine Besserung in Sicht
schien, doch Maggie hatte ihn gebremst und ihn überredet, sich noch weiterhin
in Geduld zu üben.
Mittlerweile hatte sich Vickys
Angst gelegt, soweit er das beurteilen konnte. Jedenfalls ging sie wieder
allein zur Schule und der Therapeut hatte die Anzahl ihrer Sitzungen
beträchtlich verringert. Außerdem wollte sie sich zu einem Selbstverteidigungskurs
anmelden. Nach dem, was sie erlebt hatte, ein durchaus nachvollziehbarer
Schritt, wenn ihm vielleicht auch etwas anderes lieber gewesen wäre. Zumindest
kam sie wieder unter Leute.
Was sich nicht verändert hatte,
war, dass sie weiterhin nicht mit ihnen sprach. Falls sie etwas bedrückte,
machte sie es mit sich selbst aus und sie fühlte sich eingeengt, sobald man sie
nach ihrem Befinden fragte. Jetzt war es Maggie, die der Verzweiflung nahe kam,
weil sie fürchtete, ihre Tochter zu verlieren. Er selbst sah das etwas
gelassener, wenn auch nicht gänzlich unbesorgt. Aber er vertraute instinktiv
darauf, dass Vicky schon irgendwann wieder bereit sein würde, sie in ihr Leben
zu lassen.
„Weißt du, es gibt viele Gründe,
warum die Eltern nicht früher reagiert haben. Vielleicht haben sie gedacht,
dass sie zu Hause ist, so wie wir damals. Oder sie sind davon ausgegangen, dass
sie bei einer Freundin ist. Außerdem, würdest du gleich die Polizei anrufen,
wenn dein Kind einmal nicht rechtzeitig zu Hause ist? Da kann man sich auch
ganz schön lächerlich machen.“
„Ja, das stimmt wohl“, räumte
Behrend ein. Das Thema war ihm sichtlich unangenehm, wie er
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