Die Mädchenwiese
Das hier hat mit der Bestie von damals nichts zu tun.«
Diese Worte ließen Laura eine Gänsehaut über den Rücken laufen.
»Hören Sie«, sagte Lindner.
»Nein, Sie hören mir jetzt zu«, rief Frank. »Falls Sie etwas über Lisas Verschwinden wissen, sollten Sie es sagen.«
»Nein, aber ich habe gerade …«
»Dann sind wir fertig miteinander«, schnitt Frank ihm erneut das Wort ab. »Haben Sie verstanden? Lassen Sie meine Schwägerin in Frieden. Sie hat genug zu leiden. Wir brauchen keinen Spinner, der sein Leben nicht mehr in den Griff bekommt und deshalb unnötig Panik verbreitet.«
Frank knallte die Tür zu. Als er Laura am Treppenabsatz bemerkte, hob er seine Augenbrauen. »Hast du gelauscht?«
»Morde? Bestie?«, flüsterte sie. »Was war vor drei Jahren?«
Lisas Zähne klapperten wegen der Kälte, die in der Kammer herrschte, und aus Angst.
Du bist stark , hatte Berthold gesagt. Am Sonntag hatte sie ihm geglaubt. Jetzt kam sie sich wie ein kleines Kind vor, das nach Hause wollte. Sie wollte in ihr Zimmer. In ihr frisch bezogenes Bett. Zu Mr Zett! Sie vermisste ihre Mutter und Sam. Jetzt tat es ihr leid, wie sie sich ihm gegenüber verhalten hatte. Sie wünschte sich, sie hätte ihn nicht so oft verspottet. Vielleicht wäre dann alles anders gekommen und –
Sie schrie erschrocken auf, als unvermittelt die Musik durch den Keller dröhnte. Lisa griff nach dem Sack und zog ihn sich über den Kopf. Dann verschränkte sie ihre Hände auf dem Rücken.
Als kleines Kind schon hörte ich mit Beben , sang die helle Frauenstimme. Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm.
Nach der ersten Strophe folgten die zweite und die dritte, bevor das Lied von vorne begann.
Ja, renn nur nach dem Glück. Doch renne nicht zu sehr. Denn alle rennen nach dem Glück.
Als sich das Lied zum vierten Mal wiederholte, hielt Lisa sich die Ohren mit beiden Händen zu. Dennoch ging ihr der schrille Gesang durch Mark und Bein.
Plötzlich übertönte ein merkwürdiger Laut das Lied. Verstört ließ Lisa die Hände sinken. Dann hörte sie es erneut: Es war ein Schrei.
»Silke!«, rief Lisa. In diesem Augenblick war ihr gleichgültig, was geschah, wenn sie nicht still blieb.
Abermals war ein Kreischen zu hören.
»Silke!« Laura zerrte sich den Sack vom Kopf, stolperte zur Tür und rüttelte wie wild an den Stahlstreben. »Silke!«
Als erneut ein markerschütterndes Kreischen erklang, krümmte Lisa sich wie ein Baby auf den Fliesen zusammen und presste die Hände auf die Ohren.
Noch ein Schrei, lauter und entsetzlicher als alle zuvor.
Ich will hier weg! Lisa grub die Nägel in ihre Kopfhaut. Ich halte das nicht mehr aus! Mama! Berthold! Holt mich hier raus! Bitte!
Die Musik erstarb. Die Schreie auch.
Kapitel 27
Am Ende, Sie ahnen es bereits, ging es sehr wohl. Und wissen Sie warum? Weil meine Mutter es wollte. Sie war es, die mich ermunterte.
Beinahe jeden Tag sprach sie mich auf Ferdinand an. »Berta, seht ihr euch wieder?«
Ich verneinte.
»Du musst ihn wiedersehen«, verlangte sie heiser.
Anfangs wehrte ich mich dagegen. Doch irgendwann gab ich ihrem Drängen nach. Ich müsste lügen, würde ich behaupten, ich selbst hätte es nicht gewollt.
»Ich freue mich für dich«, sagte meine Mutter, als ich ihr von meiner zweiten Verabredung mit Ferdinand erzählte. Ihre müden Augen leuchteten. Doch ich glaubte noch etwas anderes, mehr als nur Freude zu erkennen. War es – Hoffnung?
Damals kam mir zum ersten Mal der Gedanke, dass sie es wusste. Ich könnte nicht sagen, woher, und sie hat es auch niemals ausgesprochen, aber ich glaubte es zu spüren: Meine Mutter wusste, was ihr Bruder nachts in meinem Zimmer trieb. Verhindern konnte sie es trotzdem nicht. In ihrem erbärmlichen Zustand konnte sie nichts weiter tun, als darauf zu drängen, dass ich mit Ferdinand ausging, und zu hoffen, dass –
Nein, ich weiß nicht, worauf sie hoffte. Ich dachte an nichts Bestimmtes. Aber ich genoss jeden Moment, den ich mit Ferdinand verbringen konnte. Wir schlenderten gemeinsam durch den Ort, gingen ins Theater oder in ein Café und besuchten Konzerte.
Nach einem Monat wusste ich, dass Ferdinand keine Geschwister besaß und seine Eltern schon vor Jahren gestorben waren, sein Vater an Krebs, seine Mutter an der Einsamkeit.
Ich bekam eine Ahnung davon, worin seine Aufgaben als Wirtschaftskaufmann bestanden. Ich erfuhr, dass er tagsüber viel und hart arbeitete und am Abend die Erholung suchte. Dass er das Theater liebte. Dass er die
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