Die Mädchenwiese
Lieder von Hans Boll und Hartmut König verehrte, viele ihrer Texte sogar auswendig kannte. Dass der Duft, den ich so gerne an ihm roch, Patras hieß und nur in ausgewählten Exquisitläden in Berlin erhältlich war. Dass er Karo rauchte, Rotwein trank. Dass er Hähnchenfilet mochte, paniert und kross gebraten. Dass er jeden Abend Aktuelle Kamera schaute. Und dass er am lautesten über die bissige Satire eines O. F. Weidling lachte. Manchmal lachten wir gemeinsam. Ich war glücklich. Noch nie war ein anderer Mensch mir so vertraut und irgendwie so nahe gewesen, niemand außer meinen Eltern – und meinem Onkel. Zugleich war ich todunglücklich.
»Was ist los?«, fragte mich Ferdinand, nachdem wir eines Abends eine Aufführung im Friedrichstadtpalast besucht hatten. Es war später Herbst, und uns blies ein kalter Wind entgegen. »Du hast ja gar nicht richtig hingesehen.«
»Doch, aber … Es ist nur …« Ich rang um Worte. Ich hatte Mühe, mir mein Humpeln nicht anmerken zu lassen. Am Abend zuvor war mein Onkel wieder in meinem Zimmer gewesen. Seine Wut, dass ich mit Ferdinand ausging, steigerte sich von Mal zu Mal. Doch was hätte ich dagegen unternehmen können? Ich ertrug die Qualen, weil meine Mutter ihren Bruder brauchte, so wie ich inzwischen Ferdinand brauchte, der mir, wann immer wir uns trafen, Zerstreuung schenkte. Dafür war ich ihm dankbar. Liebte ich ihn? Ich weiß es nicht. Nur in einem war ich mir sicher: Ich wollte ihn nicht mehr verlieren.
»Wie lange soll das noch so weitergehen?«, hörte ich Ferdinand brummen.
»Was?«
»Das mit deiner Mutter!«
»Was ist mit ihr?«
»Willst du ewig bei ihr leben?«
»Aber …«
»Hast du nicht gesagt, dein Onkel kümmert sich um sie?«
»Ja, aber …«
»Nein!«, polterte er und blieb mitten auf dem Gehweg stehen. »Du musst endlich ein neues Leben beginnen.«
Mir stockte der Atem.
»Dein eigenes Leben!« Er ging vor mir auf die Knie und klappte den Deckel einer kleinen Schatulle auf. Im Licht der Straßenlaternen glitzerte ein Ring. »Berta, möchtest du meine Frau werden?«
Kapitel 28
Alex fluchte. Es hätte ihn nicht überraschen dürfen, dass die Polizei nach seinem Verhalten am Abend zuvor Erkundigungen über ihn eingezogen hatte. Wäre er noch im Dienst, hätte er nicht anders gehandelt. Er beeilte sich, über den Dorfplatz zurück zum Auto zu gelangen. Gizmo tänzelte neben ihm her.
Alex überlegte, ob er Frank Theis von Arthur Steinmann hätte berichten sollen. Doch was genau hätte er ihm erzählen können? Dass er am Vortag überraschend von seiner angeblichen Adoption erfahren hatte? Dass sein vermeintlich leiblicher Vater heute nicht zu einem Treffen erschienen war, ihm stattdessen drei Jahre alte Zeitungsartikel geschickt hatte, die mit einer Botschaft verschmiert waren? Sieh die Mädchenwiese ! Hatten die drei Wörter überhaupt eine Bedeutung?
Schon in Alex’ Ohren klang das alles irgendwie verrückt. Was wohl Frank Theis davon gehalten hätte?
Unvermittelt knurrte Gizmo, und seine Nackenhaare richteten sich auf. Alex hörte undeutlich Stimmen und Lachen. Im nächsten Moment klingelte sein Handy.
»Herrgott, wo steckst du?«, hörte er Norman sagen.
»Entschuldige«, erwiderte Alex kleinlaut. »Es wird etwas später.«
»Etwas? Du meinst wohl: sehr viel! Hast du mal auf die Uhr geguckt? Es ist weit nach neun.«
»Ich hab’ das Essen aus den Augen verloren. Es war viel los heute.«
»Das Treffen mit Fielmeister’s ?«
»Ja.«
»Darf ich dir heute gratulieren?«
»Ja.«
»Herrgott, erzähl schon, wie ist es gelaufen? Muss ich dir alles aus der Nase ziehen?«
Alex passierte den alten Brunnen. Ein paar Jungen kickten Laub. Auf der Holzbank hockten ein blondes und ein schwarzhaariges Mädchen. Sie trugen knielange Röcke und Flip-Flops.
»Pass auf, ich erzähl’s dir, sobald ich bei euch bin«, sagte Alex.
»Ach nee, jetzt brauchst du auch nicht mehr zu kommen. Das Abendessen ist kalt und mein Jüngster im Bett.«
»Dann morgen Abend, versprochen!«
»Okay, bis morgen.«
Die Mädchen kicherten. Einer der Jungen, der seine Baseball-Kappe verkehrt herum auf dem Kopf trug, holte zu einem Tritt gegen den Mülleimer aus. Als er Alex und den Hund bemerkte, hielt er inne. »’tschuldigung«, murmelte er.
Alex blieb stehen. »Tut mir einen Gefallen! Geht nach Hause. Es ist schon spät.«
Die Teenager tauschten amüsierte Blicke. »Es ist erst …«
»Ich meine es ernst. Und bitte, geht nicht alleine heim.«
Sie
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