Die Magd und das Teufelskind: Historischer Roman (German Edition)
schrecklichste ihres Lebens. Sogar Flöhe hatten sie sich in dem verklumpten Stroh eingefangen. Mergh rückte ein wenig näher zu ihrem Sohn, der wie ein Häufchen Elend auf der Bank kauerte. Seine Augen waren blutunterlaufen, und die Haare standen in verfilzten Zotteln von seinem Kopf ab. Ob sie auch einen so heruntergekommenen Eindruck machte? Mergh blickte an dem Sackkleid hinunter, das sie um die Hüfte mit einer Kordel zusammengebunden hatte. Die Wächter im Frankenturm hatten ihr nicht erlaubt, ihre Kleider holen zu lassen. Dass jemand von ihrem Stand in solchen Lumpen vor das Gericht treten musste, empörte sie zutiefst. Angespannt lauschte sie der Anklage gegen Gotthardt, die der Richter verlas. Sie lautete auf Amtsmissbrauch und Totschlag vor Zeugen. Die Tatbestände würden jedoch getrennt verhandelt. Mergh schrie auf. »Das war kein Totschlag, sondern Notwehr! Der Schellenmann hat ihm nach dem Leben getrachtet.«
»Schweig, Weib! Wir hören die Zeugen.«
Der Steinmetz trat vor und schilderte die Tat in allen Einzelheiten. Dieser verfluchte Sieche! In Merghs Kopf rauschte es, und sie kämpfte gegen das aufsteigende Gefühl der Ohnmacht. Es fiel ihr schwer, der weiteren Verhandlung mit voller Aufmerksamkeit zu folgen, obwohl bald darauf auch die Anklage gegen sie verlesen wurde. Sie lautete auf Bestechung des Bürgermeisters und der Prüfmeister und Mord an dem Kaufmann Claeß Sonnemann. Im Fall des Kaufmanns würden die Untersuchungen vor Ort in Italien durchgeführt werden müssen. Mergh blickte zu Gülich, der gelassen in seinem Stuhl lehnte. Auf seinen Lippen lag ein siegessicheres Lächeln. Der Gerichtssaal begann, sich um Mergh zu drehen. Allmählich dämmerte ihr, dass sie nie und nimmer ungeschoren aus dieser Sache herauskommen würde.
Als die Schöffen nach der Beratung den Saal betraten, verdunkelte sich hinter den hohen Fenstern bereits der Himmel. In Merghs Ohren dröhnte ihr eigener Herzschlag. Sie griff nach Gotthardts Hand, doch ihr Sohn schüttelte sie unwirsch ab.
Der Richter erhob sich. »Das Urteil über die Angeklagte Mergh Crosch wird vertagt, bis die Untersuchungen in Venedig abgeschlossen sind. Der ehemalige Syndikus Gotthardt Crosch wird zum Tod durch das Schwert verurteilt. Die Hinrichtung findet am Tag des heiligen Ägidius auf dem Heumarkt statt.«
Mergh wurde schwarz vor Augen, und sie sackte zusammen. Nur noch am Rande ihres Bewusstseins nahm sie wahr, dass sie auf einen Karren gehievt und in den Frankenturm gebracht wurde.
Am nächsten Morgen fasste sie einen letzten Entschluss. Sie wollte Frieden mit ihrer Seele schließen. Wimmernd bettelte und flehte sie den Wärter an, er möge sie in Gotthardts Zelle bringen. Schließlich hatte der raubeinige Mann ein Einsehen und führte sie zu ihrem Sohn, der am anderen Ende des Ganges eingekerkert war.
Gotthardt kauerte in einer Ecke der Zelle und betrachtete seine Fingernägel in dem fahlen Licht, das sich einen Weg durch die winzige Öffnung in dem Gemäuer bahnte. Wie ein verstörtes Kind verbarg er die Hände auf dem Rücken, als Mergh sich näherte. »Ich muss sie säubern, Mutter.« Nach diesen Worten schob er sich den Zeigefinger zwischen die Zähne und knabberte eifrig daran.
Mergh traten die Tränen in die Augen. Sie kniete vor ihm nieder und strich ihm das Haar aus der Stirn. »Ich muss dir etwas gestehen, mein Sohn.«
Gotthardt blickte sie mit den Augen eines geschlagenen Hundes an, steckte den nächsten Finger in den Mund und fuhr mit den Zähnen unter den Nagel.
Unsicher schaute Mergh sich in der Zelle um. Sollte sie ihr Geheimnis nicht doch mit in den Tod nehmen? Womöglich würde ihre Beichte ihn noch mehr verstören. Doch der unbändige Wunsch nach innerem Frieden drängte alle Bedenken in den Hintergrund, und sie nahm all ihren Mut zusammen. »Du wirst bald vor dem Jüngsten Gericht stehen, mein Sohn. Genau wie ich. Wir beide werden unsere Sünden sühnen müssen. Ich habe alles versucht, um dich vom Ehebruch abzuhalten. Doch die Krämerin und ihr Liebeszauber waren stärker als ich. So habe ich dich von der Hexe befreit, weil ich dachte, ich könne dich dadurch vor dem Verderben schützen.«
Gotthardt sprang auf und umklammerte mit beiden Händen den Hals seiner Mutter. »Vermaledeites Weib! Ihr habt Wilhelmina getötet?« Seine Finger drückten ihr die Luft zum Atmen ab.
Mergh öffnete den Mund zum Schrei, doch sie bekam keinen Ton heraus. In Todesangst trat sie nach Gotthardt, griff nach seinen Fingern und
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