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Die Maikaefer

Die Maikaefer

Titel: Die Maikaefer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Burkhard Driest
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Schluchzen nicht zu Wort kommen, bis ich ihr den Mund zuhielt und ihr direkt ins Ohr wisperte, dass ich nachschauen wolle, wo meine Mutter sei. Sie beherrschte sich einen Moment, sagte, sie habe nichts dagegen und nahm mich noch einmal in den Arm. Ich lag eine ganze Weile auf ihr. Es war Nacht und kalt, wahrscheinlich wollte sie sich wärmen. Ich fragte, ob sie mitkommen wollte, aber sie entschied sich zu bleiben, weil sie sich in der Remise mit den Kutschen sicherer fühlte als irgendwo sonst auf dem Gut.
    Vorsichtig kletterte ich aus der Kutsche. Es war sehr kalt, und dicke Schneeflocken wehten mir ins Gesicht, als ich hinter den Pferdeställen zum Obstgarten huschte, wo ich einen kleinen Eingang kannte. Ich brauchte nicht hinüber zu klettern, die Pforte war aufgesprengt. Auf der Nordseite verließ ich den Garten wieder und stahl mich durch einen Hintereingang ins Gutshaus. Bis zu unserem Zimmer begegnete ich niemandem. Die Tür war nicht verschlossen, und ich schlüpfte hinein.
    Es war dunkel. Ich tastete mich bis zu dem Bett, in dem Dagi schlief, tastete herum, bis ich ihr Haar und ihr Gesicht fühlte. Sie schien fest zu schlafen, aber meine Mutter hatte mich gehört und flüsterte mir von irgendwoher aus dem Zimmer zu: »Geh ins Bett und schlaf möglichst bald.«
    »Wo bist du?«, flüsterte ich zurück.
    »Ich bin auf dem Schrank, ich verstecke mich hier. Wenn jemand reinkommt, dürft ihr nicht zu mir sprechen, verstehst du?«
    Während ich mir die Schuhe auszog, richtete sich Dagi auf und schaute mich verschlafen an. Das konnte ich jetzt sehen, weil draußen ein Auto anfuhr und ein kurzer Lichtschein durchs Zimmer glitt. Ich schärfte ihr noch einmal ein, dass wir auf keinen Fall zu Mama sprechen dürften, wenn jemand hereinkäme. Sie saß so stumm und begriffsstutzig da, dass ich es ein paar Mal wiederholte. Plötzlich wurde sie wütend und sagte verdammt laut: »Ich weiß! Keiner soll wissen, dass meine Mutter auf dem Schrank liegt!«
    Es war genau das, was sie nicht tun sollte. Ich kam ihr mit meinem Gesicht ganz nah und zischte sie wie eine Schlange an: »Du sollst das nicht sagen! Hast du verstanden? Das darf man nicht sagen!«
    »Du sagst es ja auch!«, kreischte sie mich an.
    »Ich will von keinem mehr auch nur einen Ton hören!«, kam es scharf vom Schrank, und Dagi warf sich wild und mit einem Ruck unter die Decke.

19. KAPITEL
    E
    in paar Mal wurden wir in der Nacht geweckt, weil betrunkene Russen hereinkamen, Licht anmachten und herumtorkelten, um zu schauen, ob nicht doch Erwachsene im Zimmer wären. Einer zog uns einmal die Decke weg und wollte wissen, wo unsere Mutter war. Ich nahm Dagi in meine Arme und sagte: »Tot.«
    Manchmal sangen die Russen draußen, brüllten oder schossen herum, während aus der Ferne das gleichmäßige Grollen der nach Westen weiterrollenden Panzer zu hören war. Gelegentlich wurde es von Detonationen unterbrochen, die die Scheiben klirren ließen.
    Am nächsten Morgen ging ich, um aus der Küche Wasser zu holen. Weder die Köchin Hedwig Swistek noch Ruthchen Ossowski noch die Försterfrau Hilde Plum oder ihre Tochter, das Mauerblümchen, waren da. Ich drehte den Hahn auf, aber es tröpfelte nur.
    Da meine Mutter durstig war, musste ich über den Hof bis zur Schmiede, um mein Glück an der Pumpe zu versuchen. Ich nahm aus dem großen Lagerraum neben der Speisekammer einen Emailleeimer und machte mich auf den Weg.
    Als ich aus der Haustür trat, musste ich einen Moment stehen bleiben, um mich an den Anblick zu gewöhnen. Ich hatte so etwas noch nie gesehen. Alles, was sich bewegen ließ, hatten die Russen aus den Fenstern geworfen. Zerbrochene oder zerschlagene Möbel lagen umher, Betten waren aufgeschlitzt, das Bassin unter der versiegten Fontäne war weiß von Federn und überall Kadaver. Die Hühner hatten sie aus den Ställen gejagt und als Zielscheiben benutzt. Aber auch Kühe, ein Pferd, Schafe und Schweine waren Opfer ihrer Kalaschnikows geworden. Vielleicht hatte sie die Lust dazu irgendwann verlassen, denn etliche Kühe liefen frei herum und brüllten ganz herzzerreißend, weil sie nicht gemolken wurden und ihnen die Euter schmerzten. Als ich am Pferdestall vorbeikam, konnte ich nicht widerstehen hineinzuschauen. Die meisten Pferde waren fort.
    Die Pumpe funktionierte, ich hängte den Eimer an und griff mit beiden Händen den Pumpenarm. Das quietschende Geräusch beruhigte mich. Das wenigstens funktionierte noch.
    Auf meinem Weg zurück hielt mich ein Russe an

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