Die Maori-Prinzessin
dreizehn Jahre alt war, von seinem Holzpferd zu schubsen. Lucie mischte sich nicht ein. In ihren Augen war Tommy groß genug, um sich gegen seine kleine Schwester zu wehren. Aber als er genau das mit einer einzigen Handbewegung schaffte und Joanne so heftig schubste, dass sie hinfiel, schimpfte Lucie mit ihm und nicht mit ihrer kleinen Prinzessin. Tommy aber war ein kräftiger Junge mit einem ruhigen Gemüt. »Sie hat angefangen«, sagte er entschieden. »Und wer anfängt, hat die Schuld! Die blöde Ziege!«
Er hat ja recht, dachte Lucie seufzend, Joanne kann schon ein Biest sein. Sie wollte Tommy gerade über sein langsam immer krauser werdendes Wuschelhaar streichen, als Joanne wie eine Sirene aufheulte. »Aua! Er hat mich geschubst!« Sie sprach sehr deutlich für ihr angebliches Alter. Kein Wunder, war sie doch in Wahrheit bereits bald dreieinhalb.
Lucie beugte sich zu Joanne hinunter und strich ihr durch das lockige Haar. »Ja, aber du hast versucht, ihn vom Pferd zu stoßen«, versuchte Lucie ihrer Tochter zu erklären; die stampfte nur wütend mit den Füßen auf. »Ich hab Geburtstag!«
»Ja, sicher, meine Süße, nur darf man auch an seinem Geburtstag andere nicht schubsen oder stoßen!«
Das Mädchen trat einen Schritt zurück und funkelte Lucie zornig an. Und dann streckte sie ihr die Zunge heraus. Lucie war wie versteinert. Wo hatte das Kind nur so etwas gelernt? Sie suchte sofort eine passende Entschuldigung für das Verhalten ihrer Tochter, die ihr auch ohne Umschweife einfiel: Natürlich, das war der Umgang mit den Heimkindern, die sich manchmal recht ungehobelt benahmen.
»Das tut man nicht!«, ermahnte Lucie Joanne streng. Da erhellte sich das abweisende Gesicht des Kindes und Lucie glaubte schon, sie hätte mit ihren Worten etwas bewirkt, doch Joanne schoss an ihr vorbei zur Tür.
»Papa! Papa!«, rief sie und stürzte sich Tom in den Arm. Der riss sie hoch und wirbelte sie wild herum. Sie quietschte vor Vergnügen.
»Na, meine kleine Prinzessin, freust du dich über die Puppe?«
Joanne verzog verächtlich die Mundwinkel. »Nein, will weiße Püppi!«
Lucie fröstelte es bei diesen Worten. Sie hatte Joanne nämlich eine Wachspuppe ausgesucht, deren Gesicht eine gelbliche Farbe besaß. Im Gegensatz zu den neuen schneeweißen Porzellanpuppen. Letztere hatte sich Joanne gewünscht, und Lucie hätte sie ihr auch gekauft, wenn Harakeke ihr nicht dringend davon abgeraten hätte. Viel zu früh für ihr Alter, hatte ihre Schwester gemeint. Nun bekam Lucie die ganze Wut ihrer kleinen Tochter zu spüren, weil die ausnahmsweise einmal nicht ihren Willen bekommen hatte. Sie stampfte mit den Füßen auf. Dann hob sie mit spitzen Fingern die Puppe hoch und schleuderte sie mit voller Wucht gegen die Wand.
»Das geht zu weit, Joanne«, ermahnte Tom sie, aber es hörte sich nicht wirklich böse an.
Lucie kam angerannt und wollte Joanne sofort auf den Arm nehmen, aber die brüllte: »Papa, Papa!«
Während Tom seine Tochter tröstete, suchte Tommy Lucies Nähe. Sie erschrak, als sich eine Hand in ihre schob. Sie schluckte, als ihre Blicke sich trafen. Der Junge war schwer verunsichert. Am Anfang hatte er seine kleine Schwester stets mit Liebe überschüttet, doch seitdem sie zu Wutausbrüchen neigte, sobald sie ihren Willen nicht bekam, machte er einen großen Bogen um sie. Die ersten Male hatte er sich sein Spielzeug von ihr klaglos fortnehmen lassen, aber das war inzwischen vorbei. Immer, wenn sie sich ihm näherte, hielt er seine hölzernen Figuren fest in der Hand und ließ sie nicht mehr los. Dabei verzog er keine Miene, sondern setzte nur seine körperliche Stärke als Waffe ein. So einfach verteidigte sich Tommy gegen die kleine Schwester.
Lucie setzte sich auf einen Stuhl und wollte den Jungen auf ihren Schoß ziehen.
»Ich bin doch schon groß«, erwiderte er verlegen.
Lucie lächelte. »Du hast recht, sagen wir, das eine Mal noch!«
Zögernd tat Tommy seiner Mutter den Gefallen. Er umarmte sie und lehnte seinen Lockenkopf an ihre Brust. Noch war sein Haar hell, aber man konnte täglich dabei zusehen, wie es dunkler wurde. Und noch etwas hatte er von ihren Ahnen: Der ausgeprägte Schwung seiner Oberlippe war genauso geformt wie der von Lucies Vater. Trotzdem sah er aus wie ein Pakeha-Junge. Jeder unwissende Besucher hielt ihn für ein Ebenbild seines Vaters.
In ganz seltenen Augenblicken stiegen in Lucie leichte Zweifel empor, ob es wirklich für alle Beteiligten eine gute Idee gewesen war,
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