Die Maori-Prinzessin
Abreise das Amulett unter ihrem hochgeschlossenen Kleid getragen hatte. Sie hatte es Eva stolz verraten, als Joanne gerade nicht in der Nähe gewesen war. Eva hätte zu gern gewusst, warum Lucies Tochter so allergisch auf dieses Schmuckstück reagierte.
Evas Gedanken schweiften zum Weihnachtsabend und der Szene in ihrem Zimmer ab. Daniel hatte wie ein geprügelter Hund ausgesehen, nachdem er begriffen hatte, wem Evas Herz gehörte. Und dann war er überstürzt abgereist und die angefangenen Arbeiten an der Bold Winery waren halbfertig liegen geblieben. Auch Adrian war nicht mehr dort gewesen, weil er mit anderen Dingen beschäftigt war. Die beiden alten Damen störte es nicht, aber Tante Joanne jammerte ständig, dass das Anwesen nun erst recht unverkäuflich wäre. Jeden Tag bei Tisch malte sie die Zukunft in schwarzen Farben aus und verfluchte das neue Jahr. In einem Punkt hatte sie recht. Die weltwirtschaftlichen Probleme schienen mit dem Beginn des neuen Jahres Neuseeland – wie von einer verspäteten Welle getroffen – geradezu zu überrollen. Ein generell schlechter Zeitpunkt, ein Weingut, auf dem Trauben nur noch zum Hausgebrauch angebaut wurden, zu veräußern. Da es nicht von saftigen Wiesen umgeben war, schien es auch nicht unbedingt für eine Schaffarm geeignet. Und auch für Obstbauern gab es zurzeit weitaus günstigere Anwesen.
Nachdenklich verließ Eva mit ihrer Badetasche das Zimmer. Sie hatte beinahe ein schlechtes Gewissen, dass ihr inmitten all solcher gravierenden und existentiellen Probleme ein solches Glück wie die Liebe zu Adrian vergönnt war.
Im Treppenhaus auf dem Weg ins Erdgeschoss kam ihr Doktor Thomas entgegen. Der Arzt, der nach dem Verlust seines Vermögens um Jahre gealtert schien, beachtete Eva seit Daniels Abreise so gut wie gar nicht mehr. Sie war Luft für ihn. Offenbar ahnte der verbitterte Mann den Grund für die übereilte Rückkehr seines Sohnes nach Wellington.
»Guten Tag, Doktor Thomas«, grüßte Eva ihn höflich, auch wenn sie wusste, dass sie keine Antwort bekommen würde. An diesem Tag aber hob er seinen Kopf und musterte sie von Kopf bis Fuß. Dann nuschelte er etwas Unverständliches. Eva meinte zu verstehen: »Du bist an allem schuld, Hunnin!« Sie wollte sich hastig an ihm vorbeidrücken. Sein Verhalten war ihr unheimlich, doch er packte sie bei den Schultern und begann sie zu schütteln. Er sagte nichts, aber aus seinem Mund drang eine fürchterliche Fahne. »Ich hätte dich ohnehin nie als Schwiegertochter akzeptiert. Warum musstest du meinem Sohn bloß den Kopf verdrehen? Hau ab! Hast du gehört? Keiner will dich hier haben!« Er lallte.
Es gelang Eva, sich loszureißen, und sie rannte die Treppen hinunter. Dort blieb sie mit pochendem Herzen stehen. Sie kämpfte mit sich, ob sie Adrian davon berichten sollte, aber sie beschloss, es nicht zu tun. Dann würde es nur noch mehr Unfrieden in diesem Haus geben. Nein, besser wäre es, sich schnell eine eigene Bleibe zu suchen.
Aufgewühlt eilte sie weiter. Adrian hatte sie gebeten, zum Hafen zu kommen. Er hatte ihr den Ort genau beschrieben. Jetzt wünschte sie, er wäre nicht ohne sie vorgegangen, um die Überraschung vorzubereiten, die er ihr angekündigt hatte. Umso mehr, als ihr nun Tante Joanne entgegenkam.
»Guten Morgen, Tante Joanne«, sagte sie artig, doch als diese nichts erwiderte, blickte Eva sie erstaunt an. Sie hatte eigentlich stets eine spitze Bemerkung auf den Lippen, wenn sie einander begegneten, aber Eva verstand sofort, warum sie heute schwieg und versuchte, so schnell an ihr vorbeizukommen wie nur möglich. Tante Joanne hatte ein blaues Auge und Eva brauchte nicht allzu viel Fantasie, um zu schließen, wer ihr das zugefügt hatte.
Eva atmete tief durch. Sie brauchte dringend frische Luft. Jetzt fehlt nur noch, dass mir Berenice über den Weg läuft, dachte sie noch, als die Haustür aufging und Adrians Schwester ins Haus trat. Eva wollte sich auch an ihr möglichst rasch vorbeidrücken, doch Berenice ließ sie nicht durch.
»Wow, endlich besitzt sie mal ein Kleid, in dem sie sich sehen lassen kann«, spottete sie. »Du hättest Daniel nie das Wasser reichen können. Ich finde, du passt auch viel besser zu einem Jüngelchen wie meinem Bruder als zu einem gestandenen Mann.«
Auch wenn Eva ganz und gar nicht nach Streit zumute war, konnte und wollte sie diese Bemerkung nicht auf Adrian sitzen lassen. »Ich glaube, das kannst du verwöhntes Küken gar nicht beurteilen«, ätzte sie
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