Die Marionette
sein würde, damit ein neuer Termin für die Anhörung festgesetzt werden konnte. Als sie am Nachmittag zu ihrem Besuch bei Sibylle Vieth aufbrach, hatte sie noch immer keine Antwort erhalten.
***
Sibylle war blass, aber gefasst. »Lass uns spazieren gehen«, schlug sie vor und griff nach ihrer Jacke. An diesem Nachmittag waren im Alstertal nur einige Hundebesitzer und ein paar Jogger unterwegs. Durch das helle Frühlingsgrün der Bäume schien die Sonne und warf tanzende Schatten auf den Fluss neben ihnen. Eine Bank stand am Wegrand mit Blick auf das Wasser. »Sollen wir uns setzen?«, fragte Valerie.
Sibylle sah sich um und schüttelte den Kopf. »Nein, lass uns weitergehen.«
»Was ist los?«, wollte Valerie wissen.
»Du hältst mich vermutlich für paranoid«, sagte Sibylle zögerlich. »Aber ich glaube, mein Haus ist verwanzt.« Sie zog einen Umschlag aus der Innentasche ihrer Jacke und reichte ihn Valerie. Es war ein Kondolenzbrief aus teurem, schwerem Papier. Valerie blickte Sibylle fragend an.
»Mach ihn auf«, forderte die blonde Frau sie auf.
Irritiert folgte Valerie der Aufforderung. Sie zog eine Karte heraus. Die Schrift darauf war ihr vertraut. Es war dieselbe, wie auf dem Umschlag, den sie von Milan in der Nacht seines Todes erhalten hatte. Auf der Karte waren der Name einer Bank und die Nummer eines Schließfachs notiert. Darunter eine Warnung:
Sie beobachten dich. Geh nicht selbst.
Unwillkürlich warf Valerie einen Blick über ihre Schulter. »Wann hast du das bekommen?«
»Gestern. Der Bote einer Kanzlei hat es mir gebracht. Deshalb habe ich dich auch gleich angerufen.« Sibylle kickte mit der Fußspitze einen Stein aus dem Weg, vermied es, Valerie bei den nächsten Worten anzusehen. »Milan war im letzten dreiviertel Jahr häufiger in Afghanistan als je zuvor. Wir hatten Streit deswegen. ›Ich mache das schließlich auch für euch‹, hat er mir dabei einmal an den Kopf geworfen.«
Valerie blieb stehen. »Du glaubst nicht, dass er in diese Geschäfte verwickelt war, oder?«
Sibylle sah sie verzweifelt an. »Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll. Ich habe verfolgt, was in den Zeitungen steht, was sie im Fernsehen berichten.« Tränen standen plötzlich in ihren Augen, liefen über ihre Wangen. »Milan ist nicht mehr da. Er kann nichts dazu sagen. Zu all den Anschuldigungen …«
Valerie griff nach Sibylles Händen. »Du darfst nicht aufgeben, Sibylle. Ich habe den USB -Stick ausgewertet, den er mir geschickt hat. Wir sind so dicht dran, so verdammt dicht.«
»Dann bring es zu Ende, Valerie. Nimm den Brief und hol aus diesem Schließfach, was auch immer darin ist. Ich schreibe dir eine Vollmacht.«
Sibylle hatte Angst. Das wurde Valerie klar, als sie die Dringlichkeit in ihrer Stimme hörte. Sie wollte so gern glauben, dass ihr Mann unschuldig war, so gern kämpfen für seinen Leumund, aber ihr fehlte die Kraft. Oder steckte mehr dahinter?
»Ist etwas passiert, Sibylle, hat dich jemand bedroht?«
Die schwangere Frau vermied es, sie anzusehen. »Wie kommst du darauf?«
Valerie antwortete nicht. Wartete.
»Ich habe Anrufe bekommen«, sagte Sibylle schließlich so leise, dass Valerie sie durch das Rauschen des Waldes und das Zwitschern der Vögel kaum hörte.
»Anrufe?«, wiederholte Valerie.
Sibylle nickte. »Und sie kommen ins Haus. Gegenstände liegen anders oder sind verschwunden.«
»Und du bist sicher, dass du dir das nicht einbildest?«
»Du glaubst mir nicht«, bemerkte Sibylle resigniert.
»Ich bin Anwältin, Sibylle«, erwiderte Valerie. »Ich bin von Berufs wegen misstrauisch.« Sie reichte Sibylle ein Papiertaschentuch. »Hast du eine Ahnung, wer hinter den Anrufen und der Überwachung stecken könnte?«
Sibylle schneuzte sich. »Weißt du, du kannst mich für verrückt erklären, aber ich vermute, dass Bender dahintersteckt.«
»Bender? Gerwin Bender?«
»Er und Milan hatten einen Riesenstreit, nach Milans letztem Afghanistanbesuch. Milan war drauf und dran, alles hinzuschmeißen.«
Valerie begriff, dass sie dringend in Erfahrung bringen musste, was das Schließfach enthielt. »Du brauchst Personenschutz.«
»Ich glaube nicht, dass sie mir etwas antun werden. Was hätten sie davon?«
»Du wirst dich sicherer fühlen, wenn jemand da ist.«
»Nein, ich möchte das nicht.« Aus ihren großen Augen sah Sibylle Valerie fest an. »Ich ertrage so viel Nähe im Moment nicht. Aber wenn es dich beruhigt, werde ich meine Schwester bitten, einmal am Tag bei mir
Weitere Kostenlose Bücher