Die Marketenderin
sich so würdevoll wie möglich zu erheben.
Gerter wandte sich ihr zu und sein Blick wurde weicher.
»Das glaube ich auch. Aber vergiß nicht, junges Fräulein, du hast ja gehört, daß du morgen abend zum Ball eingeladen bist – wenn wir dann noch hier sind. Du kannst auch gern noch ein paar Freundinnen mitbringen. Nun kommt schon«, er ging den beiden zur Hintertür voraus und wies ihnen den Weg durch den Garten.
»Guten Abend, mein Fräulein, ach ja, und noch was.«
Als wäre ihm der Gedanke gerade erst gekommen, setzte er hinzu: »Den da können Sie natürlich mitbringen, aber ich würde mir das gut überlegen. Um ein Tänzchen mit Ihnen werden sich morgen nämlich alle Offiziere reißen.«
Die Tür knallte zu und Clärle sagte aufgeregt zu Georg: »Hast du gehört? Er hat Sie zu mir gesagt!«
Juliane blinzelte einmal, dann noch einmal, dann sah sie weg und kratzte sich heftig am linken Ellenbogen. Sie blickte wieder hin. Er war immer noch da. Der kleine Zeh neben dem kleinen Zeh am linken Fuß von Oberst von Röder. Der Oberst, der ihrem Blick gefolgt war, bückte sich, um die Hosenbeine noch weiter hochzukrempeln, bevor er die Füße mit einem Seufzer der Erleichterung in die warme Schüssel stellte.
»Sag es bitte nicht weiter«, bat er. »Es gibt Leute, die dann an meiner Wehrtauglichkeit zweifeln könnten. Aber ich weiß ja, daß Marketenderinnen verschwiegen sein können.« Und mit einem freundlichen Lächeln verabschiedete er sie.
Wie in Trance ging Juliane zur Tür, drückte die Klinke runter, ging dann über die Hintertreppe in den Garten zu ihrem Häuschen und warf sich in der Dachstube aufs Bett. Oberst von Röder war ihr Vater! Die ganze Zeit war sie in seiner Nähe gewesen und hatte nicht ein einziges Mal die Stimme des Blutes gehört. Wie war das möglich!
Sie stand langsam auf, trat vor den fleckigen Spiegel über dem Waschtisch und betrachtete sich forschend. Sie versuchte, Oberst von Röders Gesicht über ihre eigenen Züge zu legen. Die Form der Augen stimmte, die Farbe nicht, auch seine Brauen waren dicht, aber viel heller, und außerdem fiel so etwas bei Männern nicht auf. Sie dachte nach. Das Alter konnte stimmen, er war ein württembergischer Offizier mit sechs Zehen an einem Fuß und er hatte etwas über die Verschwiegenheit von Marketenderinnen gesagt.
Wie würde er staunen, wenn er erfuhr, daß ihm seine eigene Tochter das Waschwasser gebracht hatte. Im selben Augenblick zogen sich ihre Mundwinkel nach unten. Er würde es nie erfahren, weil sie es ihm leider nicht mitteilen konnte. Sogar Matthäus wußte nicht, daß sie unehelich geboren war. Sie hatte immer erzählt, ihr Vater wäre kurz vor ihrer Geburt gestorben und nach dem Tod der Mutter hatte sie eine Gelegenheit gefunden, ihre Papiere dieser Legende anzupassen. Sie hatte sich auch nach der Ehe ›Assenheimerin‹ nennen lassen, weil sie auf entsprechende Fragen antworten konnte, daß sie damit ihre verstorbene Mutter ehrte, die früher auch ›Assenheimerin‹ genannt worden war. Als sie gemeinsam arbeiteten gab es ›die junge Assenheimerin‹ und ›die alte Assenheimerin‹. Konnte dem Oberst denn entfallen sein, daß er mit der alten Assenheimerin, damals natürlich noch der einzigen, mindestens eine gemeinsame Nacht erlebt hatte?
Sie dachte an Johannes, dem unzählige Mädchengeschichten nachgesagt wurden, und sie zweifelte, daß er sich an jede Affäre noch erinnern konnte. Andererseits war ihre Mutter eine Frau gewesen, die man so schnell nicht vergaß. Warum hatte sie ihr nie verraten, daß ihr Vater Oberst von Röder war? Weil er verheiratet war? War er das überhaupt? Sie hatte ihn noch nie von einer Familie erzählen hören, und das war doch das Lieblingsthema ihrer Gäste im Zelt. Wie würde er reagieren, wenn sie ihn einfach darauf ansprach: »Herr Oberst, ich habe gesehen, daß Sie sechs Zehen am linken Fuß haben. Daher weiß ich, daß Sie mein Vater sind« – unmöglich. Und wie peinlich ihm das wäre! Wer hätte überhaupt etwas davon, wenn sie sich ihm offenbarte? Erfuhr Matthäus davon, wüßte er, daß sie ihn angelogen hatte, und dann würde er sich fragen, ob er ihr überhaupt noch vertrauen könnte. Das durfte sie nicht riskieren. Johannes würde sie sicher auslachen und ihr kein Wort glauben. Er würde ihr möglicherweise sogar unterstellen, daß sie sich eine feinere Abstammung zugelegt hatte, um ihm zu imponieren. Der Oberst selbst würde ihr wahrscheinlich glauben – er konnte ihre
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