Die Marketenderin
die Reiter nicht mehr tragen und sind zu schwach, um die Kanonen zu ziehen. In jedem Dickicht lauern Kosaken oder rachedürstende Bauern. Selbst größere Kolonnen sind gefährdet und kaum ein Mann, der sich rechts oder links von der Straße entfernt, kommt wieder zurück.«
Wieder meldete sich von Röder. Er sprach so leise, daß ihn Juliane kaum verstehen konnte.
»Es gab schon erste Vorpostengefechte. Oberst Horvath von den österreichischen Kaiserhusaren soll getötet worden sein.«
»Und bei den Russen geht es nur aufwärts!« hörte Juliane eine schrille Stimme, die sich bisher noch nicht zu Wort gemeldet hatte. »Wittgenstein hat gerade 28 Bataillone Verstärkung erhalten …«
»Woher hat er die genommen?« erkundigte sich Gerter und der Klang seiner Stimme drang Juliane tief ins Herz.
»Von der Landwehr«, antwortete von Röder. »Dieser Krieg hat den russischen Patriotismus angefeuert – übrigens hetzt die Geistlichkeit die Bevölkerung gegen uns auf und wir können nichts dagegen unternehmen – und so sind Wittgenstein die Petersburger und Nowogoroder Milizen zur Seite gestellt worden. Außerdem ist das ganze ungefähr 12.000 Mann starke Korps von General Steinheit aus Riga dazugestoßen – ihr wißt ja, das Korps mit der mißglückten Expedition gegen die Preußen. An Streitkräften dürften uns die Russen allmählich überlegen sein«, schloß er.
Juliane hatte die letzten Sätze nicht mitgeschrieben, weil sie über das Wort ›Patriotismus‹ gestolpert war, von dem sie nicht genau wußte, was man darunter verstand. Sie würde Gerter fragen müssen. Der wußte alles und außerdem zog ihn Oberst von Röder immer ins Vertrauen.
Juliane schrieb deutsch klingende Namen in ihr Heft. Winzingerode, Tettenborn, Wittgenstein, Steinheit, alle auf seiten des Feindes. Wie der Bruder König Friedrichs. Ihre Gedanken jagten sich, sie hörte nicht länger auf die Männer im Salon, sondern begann zu schreiben. Sie hatte begriffen, daß nur Napoleon selbst den Befehl zum Rückzug geben konnte, daß aber die Offiziere einstimmig der Meinung waren, dieser Rückzug müsse so schnell wie möglich vor sich gehen. Was würde passieren, wenn die Marschälle und Generäle sich einfach über Napoleons Kopf hinwegsetzten und Order zum Aufbruch gäben?
Julianes Hand zitterte leicht, sie wußte, daß sie etwas sehr Verbotenes dachte und auch noch aufschrieb. »Wenn der Herr über ein Volk nicht an das Wohl seiner Untertanen, sondern nur an das eigene denkt – zum Beispiel ans Theater – dann ist er nicht der echte Herr über das Volk und dann muß das Volk ihm nicht folgen.«
Sie schrak zusammen, als sich eine Hand auf ihre Schulter legte. Erleichtert atmete sie auf, als sie Matthäus sah.
»Ich darf hier sitzen. Johannes hat es erlaubt«, sagte sie hastig und schloß das Heft.
Matthäus nahm es ihr sanft aus der Hand und blätterte darin herum. Plötzlich runzelte er die Stirn. »Sternchen, das ist ja Hochverrat!« Leise las er vor: »Die Mächtigen der Welt sind nur deshalb mächtig, weil wir sie mächtig sein lassen. Wenn wir alle zusammen nicht auf sie hören, können sie gar nichts machen. Sie können nicht einem ganzen Volk den Kopf abschlagen. Also sind wir alle zusammen mächtiger als die Mächtigen dieser Welt. Warum machen wir uns das nicht zunutze?« Einen Moment lang dachte Juliane, er würde die Seite – auf die sie recht stolz war, denn sie fand, daß alles sehr richtig klang – aus dem Heft reißen und vernichten. Aber er legte ihr mit sehr besorgtem Gesicht das Heft wieder auf die Knie.
»So einfach ist das alles nicht.«
Auch Johannes fertigte sie mit diesem Spruch immer wieder ab. So einfach ist das alles nicht. Aber das war ja gar nicht wahr! Ganz einfach war es, nur die Menschen wollten alles kompliziert sehen. Das war ein weiteres Thema, dessen sie sich annehmen würde und worin sie den wahren großen Unterschied zwischen Männern und Frauen sah. Männer beschäftigten sich nur gern mit Dingen, die schwierig aussahen, und deshalb gaben sie selbst ganz schlichten Umständen hochtrabende Bezeichnungen. Je unverständlicher etwas ausgedrückt wurde, um so mehr Aufmerksamkeit wurde ihm zuteil. Männer brauchten sehr viele Worte, um nichts zu sagen.
Bei einem Bankett hatte Juliane einen General einmal über ein Theaterstück sagen hören: »Es geht um Liebe und Tod in Theorie und Praxis.« Das klang gut, aber sie verstand es nicht und bat Matthäus um Aufklärung. Was war zum Beispiel
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