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Die Marketenderin

Die Marketenderin

Titel: Die Marketenderin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Kempff
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abweichendes Verhalten an den Tag legten.
    »Unsere Gäste warten«, sagte sie und ging ihm in den Salon voraus.
    »Wo ist der Wagen?« fragte Matka, als Juliane außer Atem in die Backstube stürzte. Sie schüttelte wie von Sinnen den Kopf, hob Jakob aus seinem Bettchen und brachte stoßweise hervor: »Wir müssen verschwinden, ganz schnell.«
    Die alte Matka hob die Augenbrauen. »Bist du als Ausländerin erkannt worden? Das macht nichts, man wird dir nichts tun.«
    »Was?« Juliane wandte sich um und sah die alte Bäckerin mit großen Augen an. »Und das sagst du mir jetzt?« Jakob immer noch an sich drückend, ließ sie sich langsam auf die Bank fallen.
    »Warum tue ich das dann alles hier? Lumpen sammeln, Brot backen und mich taubstumm stellen? Damit man mich nicht gefangennimmt!«
    Die alte Matka stand auf, stellte sich neben sie und tätschelte ihre Wange. Es war die erste Berührung, die Juliane – abgesehen von Matkas Hilfe bei Jakobs Geburt – von der Alten erlebte und sie blieb starr vor Staunen sitzen.
    »Glaubst du wirklich, daß man dich ins Gefängnis geworfen hätte? Das hätte doch Geld gekostet! Man hätte dich laufenlassen, vielleicht erst ein bißchen Spaß mit dir gehabt, aber das ist alles und vergeht, wenn man nicht dabei stirbt. Du bist nur eine Frau, dich kann man nicht gegen einen Soldaten eintauschen, du bist nichts wert im Krieg.«
    Diese Offenbarung verdrängte augenblicklich den Schreck des soeben Erlebten. Juliane schluckte, holte tief Luft, stand auf, legte Jakob zurück in seine Wiege und fuhr Matka mit funkelnden Augen an: »Du hast das die ganze Zeit gewußt! Und mich wie eine Sklavin gehalten! Du bist schlimmer als dein Dr. Müller! Das war ein guter Mensch, er hat mir das Leben gerettet und jetzt ist er tot, sein Kutscher hat mich weggejagt …«
    Ihre Worte verloren sich. Was hatte sie sagen wollen? Matka nickte nachdenklich.
    »So war das also, aber dir hätte er nicht mehr Lesen beibringen müssen, und mit dem anderen hätte er dich wohl auch nicht mehr quälen können.« Sie lachte gackernd und ihre kleinen harten Augen wurden schmal. »Die Soldaten hätten dich nicht umgebracht, aber was denkst du, was der normale Moskauer mit dir getan hätte? Der seine schöne Stadt in Trümmern wieder gefunden hat? Alles verbrannt, wofür er Jahrzehnte gearbeitet hat? Was meinst du, wie ich behandelt werde, was ich mir gefallen lassen muß, weil ich eine Deutsche bin? Obwohl ich seit einem halben Jahrhundert Moskau nicht verlassen habe. Das wollte ich dir ersparen.«
    Zuviel, dachte Juliane nur, zuviel. Ich begreife das alles nicht mehr, Matka beschützt mich, Johannes lebt wieder im Palast, ich weiß nicht mehr, wer ich bin, wohin ich gehen, was aus Jakob und mir werden soll.
    Matka stellte einen Becher mit einer dampfenden dunklen Flüssigkeit vor sie hin. »Schokolade«, sagte sie nur, und es schwang ein wenig Stolz in ihrer Stimme mit. »Und wo ist dein Lumpenwagen?«
    »Ich kann dir sagen, wo er ist, aber ich kann ihn nicht holen«, brach es aus Juliane heraus. Mit dem Daumen deutete sie hinter sich. »Bei dem Palast, nahe am Fluß, da, wo ich früher gewohnt habe.«
    »Und wen hast du im Palast gesehen?« fragte Matka mit eiskalter Stimme.
    »Johannes, diese wunderschöne Frau und … und Felix.« Ihr fiel ein, daß Matka Felix kannte und plötzlich erinnerte sie sich wieder an die seltsame Frage, die Matka ihr am ersten Abend gestellt hatte. Und da war noch etwas anderes gewesen, das Getreide, das er Matka mitten in der Nacht gebracht hatte, in jener furchtbaren Nacht, in der Johannes sie weggestoßen hatte.
    »Warum hast du mich damals eigentlich gefragt, ob Felix mich geschickt hat?«
    Matkas Mund wurde wieder ein dünner Strich. Normalerweise hätte sich Juliane in die Unvermeidlichkeit des Schweigens gefügt, aber jetzt stieg ein ungeheuerlicher Gedanke in ihr auf. Daß sie nicht vorher darauf gekommen war! Aber es war zu abwegig gewesen und doch, wenn sie alles bedachte, paßte es zusammen. Der schwankende Gang und ›er war kleiner als Dr. Müller‹, Gerters ausweichende Antworten, wenn sie ihn nach Felix befragte, ein ›bewegtes Leben‹, Felix selber, der nie etwas von sich preisgegeben, der seine Vergangenheit ›vergessen‹ hatte. Felix, von dem Matthäus einmal bemerkt hatte, es sei, als ob er Russisch verstehe, Matkas Weigerung, von ihrem Sohn mehr zu erzählen, als daß er als junger Mann auf einem Schiff in Odessa angeheuert hatte und Felix' seltsames

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