Die Marketenderin
wartete Johannes auf ihre Reaktion.
Aber er wurde enttäuscht, Juliane sprang ihm keinesfalls wie eine Furie an den Hals, sondern setzte sich ganz langsam wieder auf die Sesselkante. Sie beugte sich vor und sah Johannes scharf an.
»Irgend etwas geht hier vor«, sagte sie ruhig. »Ich verstehe es nicht und ich weiß auch nicht, ob ich es überhaupt verstehen will. Felix ist ein ganz anderer Mensch, seitdem wir hier in Moskau sind …«, sie dachte nach, »… eigentlich, seitdem wir in Rußland sind. Und du … du behandelst ihn auch ganz anders als in Stuttgart.«
»Ach was, du redest Unsinn!«
»Und der Lebende hat recht«, sang Johannes und wandte sich an Matthäus: »Was macht das Russisch? Schon was Nützliches gelernt?«
»Borschtsch«, antwortete Matthäus und drückte seiner Frau einen Bleistift und einen kleinen Zettel in die Hand.
»Schreib's auf«, sagte er zu ihr und begann etwas von der Rückseite eines Flugblatts abzulesen.
»Moment«, Johannes hielt die Hand auf. »Was steht auf diesem Papier, Matthäus?«
»Das Rezept für Borschtsch«, antwortete der Korporal verwundert.
»Nein, auf der Rückseite!«
Matthäus hob die Schultern. Was interessierten ihn die kyrillischen Buchstaben!
»Das lag bei Olga herum. Rotrüben«, las er unbeirrt vor, »Möhren, fettes Schweinefleisch, Sellerie, Petersilienwurzel, Zwiebeln, Weißkraut, Fenchel, Essig, Knoblauch, Pilze, Zucker …«
Mitten in der Nacht wurde Juliane durch ein Geräusch geweckt. Sie stand auf, ging ans Fenster und sah, wie Felix durch den Garten aufs Haus zuging. Gott sei Dank, dachte sie, er ist heil zurückgekommen! Sie wollte schon wieder ins Bett, als sie Johannes mit einer Lampe an der Hintertür sah.
Er redete aufgeregt auf Felix ein und zeigte ihm etwas, was Felix sich näher zu betrachten schien. Wieso gehen sie nicht ins Haus?, fragte sich Juliane. Sie wunderte sich noch mehr, als Johannes kurz danach durch den Garten zum Pferdestall neben dem Kutschhaus rannte. Wenig später hörte sie das Getrappel von Hufen.
Ich muß wissen, was hier vorgeht, sagte sie sich entschlossen und begann sich leise anzuziehen. Sie würde Felix ins Gebet nehmen. Er war sicher noch wach, aber genauso sicher viel zu müde, um ihr etwas vorzulügen.
Als erstes ging sie zum Kutschhaus. Da stand ihr Wagen. Mal sehen, was Felix aufgetrieben hat, dachte sie und hob die Plane. Das durfte doch nicht wahr sein! Sie stieg hinein, aber außer einer Kutte, wie sie sie an einigen russischen Bauern gesehen hatte, befand sich nichts im Wagen. Sie ließ den Baumwollstoff fallen. Dafür war Felix den ganzen Tag unterwegs gewesen? Um einem Bauern die Kleidung abzunehmen? Na warte, Bürschchen, dachte sie, jetzt wirst du mir mal was erzählen! Aber im Palast traf sie niemanden an. Felix' penibel aufgeräumte Kammer war leer, ebenso der Salon, der Ballsaal und das Herrenzimmer. Sie blickte aus dem Fenster und sah nur die zwei Wachen, die gelangweilt auf und ab liefen.
Wo war Johannes hingeritten? Wo hielt sich Felix auf? Mit einer Kerze in der Hand schlich Juliane durch die Bibliothek, öffnete gedankenverloren eine Tür und sah, daß sie sich in Gerters Schlafzimmer befand. Ganz schön unordentlich, dachte sie.
Ihr Blick schweifte über Kleidungsstücke auf dem Fußboden, umgekippte Bücherstapel neben dem ungemachten Bett, ein aufgeschlagenes Buch darauf und auf dem Nachttisch ein halb geleertes Glas Wein, in dem eine Fliege schwamm. Sie stellte die Kerze auf den Nachttisch, fischte mit dem Pfeifenputzer das ertrunkene Tierchen aus dem Glas, trank einen Schluck und setzte sich aufs Bett. Hier verbrachte er seine einsamen Nächte. Ob er schnarchte? Sie grub ihr Gesicht ins Kissen, es roch schwach nach Tabak. Die Bettwäsche hätte schon längst gewechselt werden müssen, Felix vernachlässigte seine Aufgaben sträflich.
Sie setzte sich wieder auf. Ob sie im Zimmer Ordnung schaffen sollte? Durchlüften wäre auch keine schlechte Idee. Aber dann wüßte er, daß sie in seinem Zimmer gewesen war. Sie ließ sich auf den Rücken fallen. Es liegt sich hier gut, dachte sie, ob er auf der Seite schläft? Auf welcher? Sie legte sich auf die rechte Seite und zog die Decke über sich. Etwas polterte zu Boden. Erschrocken richtete sie sich auf und griff nach dem heruntergefallenen Buch. Es hatte offen dagelegen und er würde wissen, an welcher Stelle er mit dem Lesen aufgehört hatte. Sie schlug das Buch in der Mitte auf, rückte näher an den Nachttisch und schob die
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