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Die Mars-Stadt

Die Mars-Stadt

Titel: Die Mars-Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken MacLeod
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sie jenseits des Horizonts. Die Armee der Neuen Republik
war angeblich in Luton eingedrungen. Was immer daran wahr war,
Luton oder ein anderen Stadtteil wurde gerade von der
Königlichen Artillerie beharkt.
    »Das ist euer Problem«, fuhr ich fort und schaute
sie an. In gewisser Weise war sie mir im Laufe der Jahre vertraut
geworden, doch hatte sie sich zwischen zwanzig und fünfzig
kaum verändert, worum ich sie stets beneidet hatte. Der
sichtbarste Unterschied zwischen meiner ehemaligen
Jugendbeauftragten und der Frau, die jetzt in meinem Büro
stand, war, dass sie ihren alten Kosmonautenoverall gegen ein
schickeres Krino-Kleid ausgetauscht hatte.
    Ich war jetzt in den Neunzigern, noch immer fit und
tatkräftig, und stolzierte großspurig in meiner
Lederhaut umher, und mein Gehirn lief noch immer sauber und rund,
geölt von embryonalen Stammzellen. Die
Lebensverlängerung und die Aussicht, dass es damit ewig so
weitergehen könnte, hatten mich jedoch der stoischen Reife
und Überlegenheit mancher wahrhaft alter Personen der
Vergangenheit beraubt. Mir war eine gewisse Verhärtung der
Sichtweisen und ein Nachlassen des Elans aufgefallen. Die
friedliche Revolution, aus der die ursprüngliche Republik
hervorgegangen war, hatte ich begrüßt; ich hatte die
chaotischen Möglichkeiten, die sich beim gewaltsamen
Zusammenbruch der Republik boten, nach Kräften genutzt;
jetzt aber, da die Gewalt wieder aufzuflackern drohte –
entweder im Zuge einer neuen Revolution oder einer
Konterrevolution –, war ich entschlossen, alles zu tun,
damit ich diesen neuesten Umbruch überlebte, ohne den
Anspruch zu erheben, davon profitieren zu wollen.
    Hinter mir erbebte das Fenster von einer Detonation, gefolgt
vom verspäteten Heulen einer vorbeifliegenden Rakete. Ich
war wohl zusammengezuckt, denn Julie sagte mit klammheimlicher
Genugtuung: »Es ist auch dein Problem. Willst du warten,
bis die Raketen durchs Fenster geflogen kommen?«
    »Nein«, entgegnete ich. »Aber was erwartest
du von mir?« Zu meinem Verdruss klang meine Stimme
nörgelig. »Weshalb wendest du dich nicht an eure
eigenen Wortführer?«
    Julie lachte verächtlich. »Sag mir, wer das ist. Du
bist allen bekannt. Du bist unserer großer alter
Mann.«
    »Oh, danke.«
    »Und daher«, fuhr sie fort, »bestehen sie
darauf, mit dir zu reden, weil du an dem, was die
Republikaner als den Großen Betrug bezeichnen, nicht
beteiligt warst.«
    Ich ertappte mich dabei, dass ich eine Zigarette rauchte. (Die
erste dieses Tages. Irgendwann musste ich das Rauchen
endgültig aufgeben, ganz gleich, ob Gesundheitsrisiken
bestanden oder nicht…)
    »Aber das war ich doch«, sagte ich.
»Verdammt noch mal, ich habe den Hannoveranern geholfen,
die Landkarten zu zeichnen.«
    »Klar«, meinte Julie. »Und dann haben wir
dich rausgeschmissen, weißt du noch?«
    »Und?«
    »Na ja, die Leute glauben alle, der Grund wäre
gewesen, dass du gegen das Abkommen warst.«
    »Was!« Ich setzte mich auf die Schreibtischkante
und lachte. »Hat das die Organisation lanciert?«
    »Eigentlich nicht«, antwortete Julie.
»Wir… haben dem bloß nicht widersprochen.
Nachdem wir uns selbst die Hände schmutzig gemacht hatten,
konnten wir dich kaum des Opportunismus bezichtigen.«
    »Natürlich konntet ihr«, sagte ich
geistesabwesend. »Habt ihr denn gar nichts von mir
gelernt?«
    Soeben war mir klar geworden, weshalb mein Ruf seit dem
Abkommen einen Zug mystischer Unantastbarkeit aufwies, den ich
mir mit meinen politischen Aktivitäten gewiss nicht verdient
hatte. Dieser Ruf hatte mir bei meiner zweiten Karriere geholfen,
einer nicht sonderlich anspruchsvollen Geschichtsprofessur an der
North London University, die mit intensiverem Schreiben
einherging, als ich es bisher praktiziert hatte. Das Schreiben
hatte mich ungewollt in die Position eines Weltraumgurus
gebracht, über den mehr geschrieben wurde, als man von ihm
las. Die müßige Neugier, die mich bewogen hatte, die
Verschwörungstheorie der Geschichte zu untersuchen und zu
widerlegen, wurde als längst überfällige Revision
revisionistischer Gelehrsamkeit begrüßt, meine
zunehmend zynischen journalistischen Arbeiten galten als Stimme
des radikalen Gewissens der Bewegung, welche die unvermeidlichen
Kompromisse der Nichteinmischungshegemonie über Norlonto
infrage stellten.
    Julie sah auf die Uhr, nestelte am Handy herum, zupfte an
ihrem Haar. Eine weitere Rakete flog vorbei, näher

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