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Die Mars-Stadt

Die Mars-Stadt

Titel: Die Mars-Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken MacLeod
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gehörte vor allem der anschließende Pubbesuch)
erklärte er, Trotzkist zu sein und Informatik zu studieren;
ersteres erstaunte uns nicht, das zweite hingegen schon.
    Die neben mir sitzende Frau war Amerikanerin und ebenfalls
Trotzkistin. Reid erhob sich, um eine Runde auszugeben, und
fragte sie: »Was willst du trinken?«
    »Tomatensaft«, antwortete sie. Er nickte
verwundert.
    »Wie kommt’s, dass du ihn noch nicht kennst,
Myra?«, fragte ich, als er zur Bar schlurfte.
»Gehörst du nicht auch den Internationalen Marxisten
an?« Das hatte ich im Institut mal bei einer Tasse Kaffee
von ihr erfahren – um ehrlich zu sein, hatte ich versucht
sie anzumachen, denn sie gefiel mir recht gut. Sie war groß
und unglaublich schlank, hatte einen blonden Bubikopf und ein
keckes, spitzes Gesicht, dessen Augenhöhlen und Wangen den
Eindruck machten, sie seien liebevoll von dicken Daumen
modelliert worden. Ihre grauen Augen funkelten hinter
großen runden Brillengläsern hervor.
    »Ich gehe nicht oft in Versammlungen«,
erklärte sie und schüttelte einmal den Kopf. »Ich
habe die Schnauze voll davon, mir von Genossen sagen zu lassen,
ich solle einen größeren Beitrag im Kampf gegen die
leninistisch-trotzkistische Faktion leisten. Ich meine, was
glauben diese Typen eigentlich, weswegen ich nach England
gekommen bin?«
    »Du meinst Schottland, in England?« Ich zog die
Worte ironisch in die Länge; auf ihre mir völlig
unverständliche Bemerkung vermochte ich nichts zu
entgegnen.
    Myra lachte. »Los, hilf dem armen Kerl. Anscheinend hat
er Probleme.«
    Reid wandte sich erleichtert zu mir um. »Ich habe alles,
bis auf Myras Saft. Was, zum Teufel, sind eigentlich
›Tomadden‹?«
    »Und einen Tomatensaft!«, sagte ich zum Mann am
Tresen.
    »Oh, danke«, meinte Reid. Er sah zu mir auf.
(Unbewusst hatte er sich zu voller Größe aufgerichtet,
was die Leute in meiner Gegenwart nur selten taten, doch er sah
immer noch zu mir auf.) »Was du da gerade über den
Markt gesagt hast, war interessant. Die Sache mit den tausend
Gleichungen.«
    »Ja«, meinte ich und sammelte ein paar Drinks ein.
»Die vielen tausend Gleichungen. Und das ist längst
noch nicht alles.« Ich wusste, was als Nächstes kommen
würde, denn das Thema hatten wir nicht zum ersten Mal.
    »Warum können wir keine Computer
einsetzen?«
    »Weil«, sagte ich über die Schulter hinweg,
während ich mir einen Weg zum Tisch zurück bahnte,
»es ohne Markt keine Scheißcomputer geben
wird!«
    Myra lachte, als ich die Drinks absetzte. »Mach dir
nichts aus Jons bourgeoisen Wirtschaftstheorien«, sagte sie
zu Dave Reid, als wir wieder Platz nahmen. »Sogar die
Sowjetunion hat Computer.« Sie suchte in seiner verdutzten
Miene nach einem Zeichen von Zustimmung, dann setzte sie hinzu:
»Die größten der Welt!«
    Reid lächelte, fuhr aber unbeirrt fort: »Seht euch
nur mal IBM an. Scheren die sich etwa um Marktkräfte? Einen
Scheißdreck tun sie! Ein Freund von mir hat mal einen
Sommer lang in ihrer Fabrik in Inverkip gearbeitet. Er meint, die
würden Ersatzteile binnen achtundvierzig Stunden an jeden
Ort der Welt schicken, selbst wenn sie dafür einen bereits
fertigen Rechner mit der Axt zerlegen und die Teile
rausreißen müssten!«
    »Ja, das klingt ganz nach Sowjetunion«, sagte ich,
was allgemeines Gelächter zur Folge hatte. »Und du
hörst dich genau so an wie mein Alter.«
    »Ist er Sozialist?«, fragte Reid
ungläubig.
    »Mitglied der SPGB auf Lebenszeit«, antwortete
ich.
    »SPGB? Ist ja toll!«, meinte Reid.
    »Was bedeutet SPGB?«, fragte Myra. Reid setzte
gleichzeitig mit mir zu einer Antwort an, dann lächelte er
und zog seinen Beitrag achselzuckend zurück.
    Ich nahm einen großen Schluck, doch ich roch nicht den
Apfelmost, sondern erinnerte mich an den Duft gemähten
Grases, an den Gestank von Hundescheiße und den Geruch von
Vanille: Speaker’s Corner. »Die Sozialistische Partei
Großbritanniens«, erklärte ich und fiel nahezu
automatisch in den Seifenkisten-Singsang des autodidaktischen
Agitators, »stellte sich 1904 mit kaum hundert Mitgliedern
die Aufgabe, die Mehrheit der Arbeiter in aller Welt für
sich zu gewinnen. Mittlerweile haben sie achthundert Mitglieder,
also sind sie auf dem besten Weg. Die günstigsten Prognosen
verheißen ihnen eine klare Mehrheit für das
fünfundzwanzigste Jahrhundert.«
    »Du machst Witze«, meinte Myra.
    »In der Tat«, sagte Reid finster. »Das ist

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