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Die Mars-Stadt

Die Mars-Stadt

Titel: Die Mars-Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken MacLeod
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keine schlechte Karikatur, das muss man dir lassen. Aber ich habe
ein paar Sachen von ihnen gelesen, und diese Berechnung ist mir
nirgends untergekommen.«
    »Okay«, räumte ich ein, »die hab ich
erfunden. Das heißt, eigentlich mein Dad. Er ist ein treuer
Anhänger, besitzt aber Humor, und einmal hat er ein kleines
Programm geschrieben, das den Bevölkerungszuwachs mit dem
Wachstum der Partei in Beziehung setzt, und es in der Arbeit
laufen lassen.«
    »Dann ist er also Programmierer?«
    »Ja. Er arbeitet für die Londoner E-Werke. Als er
anfing, verstand man unter Fehlersuche das Entfernen der
Spinnweben von den Ventilen, und das habe ich nicht
erfunden!«
    Reid und Myra und mehrere andere am Tisch lachten. Ich hatte
mich bislang noch nicht so weit vorgewagt und hatte den Eindruck,
bei der Clique ganz gut anzukommen.
    »Die Sache ist die«, setzte ich hinzu,
während die anderen mir noch zuhörten, »dass ich
alle diese Argumente über Computer, die die
Wirtschaftsplanung zu einem Kinderspiel machen, schon gehört
habe, aber bloß nicht glauben kann.«
    »Du lässt da einige Dinge außer Acht«,
warf Myra ein und zählte sie nacheinander auf, ihre
politische Leidenschaft ein Spiegelbild der meinen. Deshalb ging
ich zu einer anderen Leidenschaft über.
    »Ich will sowieso keine Plangesellschaft«, sagte
ich. »Die passt nämlich nicht in meine Pläne.«
    Das brachte mir wohlfeiles Gelächter ein.
    »Also, was bist du?«, fragte Reid. »Ein
Rechter?«
    Ich seufzte. »Eigentlich bin ich ein individualistischer
Anarchist.«
    »Eischentlisch bin isch ein individualischtischer
Anarschist«, äffte Myra mich nach. »Eher wohl
ein Anachronismus. Das ist tragisch«, setzte sie an die
anderen gewandt hinzu. »Der Junge lernt auf dem Schoß
seines Vaters die Grundlagen des Marxismus und endet als
beschissener Proudhonist!«
    »Genau«, sagte ich. »Obwohl ich glaube, dass
dein Landsmann Tucker die Sache ganz gut auf den Punkt gebracht
hat.«
    »Und wer ist dieser Tucker?«, fragte jemand.
    »Also… «, setzte ich an.
     
    An diesem Nachmittag kamen wir nicht zum Arbeiten, aber wenn
man es ökonomisch-berechnend betrachtet, war es die Sache
wert. Es endete damit, dass wir in einem Kellerraum des Instituts
Dosenbier und Kaffee tranken. Reid und ich saßen Myra
gegenüber an der Ecke des großen Tisches. Bisweilen
unterhielt sie sich mit uns beiden, manchmal mit anderen Leuten,
dann wieder mit einem von uns. Wenn sie mit Reid redete, hatte
ich den Eindruck, einem Familientratsch zu lauschen, und
hörte entweder weg oder wandte mich anderen Unterhaltungen
zu. Sie aber bezog mich immer wieder ein, mit einer Bemerkung
über Vietnam oder Portugal oder Angola: die richtigen Kriege
und Revolutionen, um die die Faktionen ihren interkontinentalen
Kampf austrugen.
    Nach einer Weile merkte ich, dass nur noch wir drei übrig
geblieben waren. Ich erinnere mich an Myras Gesicht, daran, dass
sie die Ellbogen auf den Tisch gestützt hatte und mit den
schmalen Händen gestikulierte, während sie über
New York redete. Ich fand, dies sei genau der Ort, den ich
besuchen wollte, als plötzlich Reids Stuhl über den
Boden scharrte und er sich erhob.
    »Ich muss los«, sagte er. Er lächelte kurz
Myra zu, dann sah er mich an und sagte: »Bis dann,
Jon.«
    »Ja, sieht so aus, als würden wir uns wieder
über den Weg laufen«, erwiderte ich grinsend.
»Wenn wir uns nicht morgen oder übermorgen sehen, dann
bestimmt am Freitag im QM.«
    »Lauf uns bloß nicht weg, Dave«, sagte Myra.
»Komm unbedingt zum nächsten Seminar, okay? Leute wie
dich brauchen wir im Critique. Nicht bloß
Akademiker, verstehst du?«
    Reid errötete leicht, dann sagte er lachend: »Klar,
hab ich mir auch schon gedacht!« Er warf sich einen
Matchbeutel über die Schulter und winkte uns mit gespreizten
Fingern ruckartig zum Abschied.
    Wir hörten, wie er mit seinen Wüstenstiefeln die
Treppe hochstapfte und die Tür hinter sich zuschlug. Jetzt
erst wurde mir bewusst, dass wir den Nachmittag über
miteinander um Myras Aufmerksamkeit gebuhlt hatten – oder
aber sie hatte uns auf die Probe gestellt. (So fing es an: mit
Myra. Und nicht mit Annette, wie ich viel später dachte.
Denn wenn Myra von Anfang an mit Reid gegangen wäre und ich
mit Annette…)
    Myra stützte das Kinn auf die Hände, rückte die
Brille zurecht und musterte mich.
    »Tja«, meinte sie. »Interessanter Typ,
wie?«
    »Ja«, sagte ich. »Sehr

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