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Die Mars-Stadt

Die Mars-Stadt

Titel: Die Mars-Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken MacLeod
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ziehen sie uns
davon.«
    Reids Augen funkelten, er klang vergnügt. So war er
immer, wenn sich eine Idee bei ihm festgesetzt hatte und er
Prophezeiungen aussprach. Prophetisch klang es gewiss, doch im
Dezember 1975 war die Idee nicht einmal originell. (Damit ist
übrigens das Jahr nach Christus gemeint.) Er hatte sie aus
einem Buch.
    »Was meinst du eigentlich mit
›davonziehen‹?«, fragte ich.
    »Wenn wir«, fuhr er in ruhigerem Ton fort,
»eine Maschine erschaffen können, die intelligenter
ist als wir, dann kann diese wiederum eine Maschine erschaffen,
die intelligenter ist als sie selbst. Und so immer weiter. Eine
galoppierende Evolution, Mann.«
    »Und was wird dann aus uns?«
    Reid schob mir ein großes Glas Apfelmost hin.
    »Wir bleiben zurück«, sagte er fröhlich.
»Wie Affen in einer Stadt voller Menschen. Komm, wir suchen
uns einen freien Tisch.«
    Die Studentenvereinigung der Universität Glasgow stammte
aus einer Zeit, als Frauen noch nicht zum Studium zugelassen
waren. Sie war immer noch nicht ganz auf der Höhe der Zeit.
Die Studentinnen hatten einen eigenen Treffpunkt, das QM, in dem
Studierende beiderlei Geschlechts zugelassen waren. Dort trieben
sich daher die radikaleren und progressiveren männlichen
Studenten herum, außerdem bot es sich natürlich an,
wenn man ein Mädchen aufreißen wollte.
    Und genau das hatten wir vor: zur Einstimmung mit unseren
Kumpeln ein paar Drinks in der Bar und dann gegen zehn in die
Disco, mal sehen, ob jemand Lust zu tanzen hätte. Es wurde
deshalb vorher so viel wie möglich getrunken, weil die
Schlange an der Discobar für die reserviert war, die eine
Runde ausgaben oder – was noch besser war – einer
Tanzpartnerin einen Drink spendierten.
    In der Bar – gemeint ist die Bar der
Studentenvereinigung, nicht die Discobar – war es um diese
Zeit noch recht ruhig. Daher fanden wir auch freie Plätze,
und zwar auf einer Bank ganz hinten, von der aus man alle
Neuankömmlinge sehen und – wenn man sich ein wenig
erhob und umdrehte – auch die Lage auf der im Untergeschoss
befindlichen Tanzfläche peilen konnte.
    Ich drehte eine dünne Zigarette mit Golden Virginia und
hob mein Glas Strongbow Apfelmost.
    »Cheers«, sagte Reid.
    »Slainte«, sagte ich.
    Wir grinsten über unsere unterschiedlichen
Trinksprüche – Reid hatte etwas ähnliches wie Cheeurrsh gesagt und ich Slendge. Reid stammte von
der Isle of Skye, wo sein Urgroßvater nach der Vertreibung
durch die schottischen Gutsherren als Schäfer gearbeitet
hatte. Ich war aus Nordlondon, und wir beide waren in
Mittelschottland ein wenig fehl am Platz. Wir kannten uns noch
nicht lange und hatten uns vor einem Monat bei einem Seminar zum
Kriegskommunismus kennen gelernt. Das Seminar wurde von Critique gesponsert, einem linksradikalen Ableger des
Instituts für sowjetische Studien, wo ich einen
einjährigen Master-of-Science-Kurs in sozialistischer
Ökonomie belegt hatte.
    Ich stimmte nicht mit ihren Vorstellungen überein, fand
die Critique-Clique (wie ich sie insgeheim nannte) aber
kongenial und anregend. Sie waren die Jungtürken, die
Linksopposition, das Schattenkabinett und die Exilregierung des
Instituts. Sie hielten sowohl die Hauptströmung wie auch die
marxistischen kritischen Theorien der Sowjetunion mit typisch
blauäugiger, mitläuferischer Naivität für
mindestens ein neues System, obwohl dort kaum eine Gesellschaft
entstanden war.
    Das Seminar fand zur Mittagszeit statt. Es war wie stets gut
besucht, weniger wegen seiner Beliebtheit, sondern eher aufgrund
der seltsamen Taktik, stets einen Raum zu belegen, der etwas zu
klein war für die erwartete Zahl von Besuchern. Die
Teilnehmer stellten bunt zusammengewürfelte Mischung von
Exilanten dar – aus Amerika, Chile, Südafrika und
sogar von der anderen Seite. Reid, der zusammengesunken in einer
neuen Jeansjacke dasaß und damit beschäftigt war,
seine Selbstgedrehte ständig neu anzuzünden, daran zu
ziehen und sie wieder zu vergessen und dessen glattes schwarzes
Haar ein junges; gutaussehendes, irgendwie aber auch
wettergegerbt wirkendes Gesicht umrahmte, fühlte sich
anscheinend ganz und gar zu Hause, und die Fragen, die er dem
Vortragenden anschließend stellte, zeigten zumindest, dass
er wusste, wovon er sprach. Niemand von uns hatte ihn zuvor schon
einmal gesehen, und später im Pub (diese Seminare hatten
mehrere Dinge mit sozialistischen Versammlungen gemeinsam, und
dazu

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