Die Mars-Stadt
Selbstvertrauen mitzuteilen. »Gestern«, antwortet
sie.
Ax’ Mund steht eine Weile offen. Vorübergehend ist
ihm der Ich-habe-schon-alles-gesehen- Blick abhanden gekommen. Er
holt eine Zigarettenpackung aus dem Ärmel seines T-Shirts
und steckt sich geistesabwesend eine an, ohne Dee anzusehen, ohne
ihr eine Zigarette anzubieten. »Aber warum«,
fährt er fort, »hast du überhaupt diese ganze
Zusatzsoftware geladen? Was hat dich dazu veranlasst?«
Dee weiß nicht, was sie darauf antworten soll. Es
fällt ihr schwer, sich an ihre frühere
Eindimensionalität zu erinnern, als sie von einem
Bewusstseinszustand in den nächsten wechselte und stets sie
selbst war, immer eine einzige Person. Damals war sie nicht
weniger bewusst gewesen als jetzt, doch es war ein ungeteiltes,
naives, lenkbares Bewusstsein, ohne innere Freiheit. Aber schon
damals war in ihrem Ich der Wissensdurst beheimatet gewesen. Und
als sich die Gelegenheit bot, hatte sie zugegriffen – mit
der beruhigenden Gewissheit, dass ihr Besitzer dies
gutheißen würde.
»Instinkt«, sagt sie mit einem munteren Lachen. Ax
schnaubt und verdreht die Augen.
»Na schön«, meint Dee pikiert.
»Vielleicht stammt es ja wirklich nicht aus dem
Tierkörper oder den paar Brocken biologischen
Gehirns!«
»Dieses Argument sollten wir der anderen Seite
überlassen«, sagt Ax.
»Welcher anderen Seite?«
»Der gegnerischen Seite«, erklärt er mit
angespannter Geduld. »Die Angelegenheit wird auf jeden Fall
vor Gericht landen. Kennst du dich mit Gerichten aus?«
»Aber ja doch«, meint Dee munter. »Ich habe
ein Bewusstsein, das sich Sekretärin nennt. Die steckt bis
oben hin voller Präzedenzfälle.«
»Also«, sagt Ax abschließend, »dann
schlage ich vor, dass du sie noch mal durchgehst. Jetzt sieht
bestimmt alles ganz anders aus, das kannst du mir
glauben.«
»Ist gut«, meint Dee. Ax hält die Tür
auf und wartet. Dee erhebt sich.
»Was jetzt?«
Er mustert sie von oben bis unten. »Ich glaube, wir
gehen erst mal einkaufen.« Sein Tonfall verrät
zwitterhaftes Missfallen.
Sie nimmt die Handtasche, steckt sich die Pistole hinter den
Rock und blickt sich um. Sie hat nichts vergessen.
»Ein hübsches Zimmer.«
»Das ist meins«, sagt Ax. »Es wäre mir
eine Freude, es mit dir zu teilen.«
Die Eingangstür des Gebäudes fällt hinter ihnen
dröhnend ins Schloss. »Abschließen«,
befiehlt Ax. Magnetische Bolzen versetzen die Tür abermals
in Schwingung. Ax grinst Dee an und wendet sich nach links. Dee
blickt sich, neben ihm hergehend, um. Das Haus, aus dem sie
soeben getreten sind, hat vier schmale Etagen. Die anderen
Häuser in der Gegend sehen ganz ähnlich aus, der
typische Kanalstil, doch es gibt keine verwitterten
Backsteinwände oder auffallenden Putz, keine Fensterbretter
und Blumenkästen. Alles ist aus Beton, eine Haut, die eilig
auf einem Maschendrahtgeflecht aufgebracht wurde und von
Eisengerippen gestützt wird, und Graffiti ist der einzige
– und angemessene -Schmuck. Die nadelförmigen
Türme des Stadt überragen die Häuser wie
Baukräne und lassen sie vergleichsweise wie Baubaracken
erscheinen.
Von den Buden steigt Rauch auf, von den Gehsteigen Dampf.
Nebel hängt über dem Kanal. Die Spraybilder an den
Wänden werden immer heftiger und steigern sich an der
Mündung einer Gasse zu geballten Fäusten, Raketen,
Pilzwolken und Dinosauriern.
Ax bleibt stehen und zeigt in die Gasse. »Hier
entlang.«
Die Gasse ist gerade mal drei Meter breit, aber voller
Läden und besitzt im Unterschied zur Umgebung einen gewissen
bemühten Charme, und die Ladenbezeichnungen ahmen
sorgfältig die akkurate Kalligraphie der Ladenschilder des
einundzwanzigsten Jahrhunderts nach. Am ersten Schaufenster
wartet Ax ungeduldig, während Dee ein fossiles Diorama
betrachtet, das angeblich die ehemalige Fauna eines der
ausgetrockneten Meere darstellt. Der Wissenschaftler ist anderer
Ansicht, und Dee, die sich mit lateinischen Bezeichnungen nicht
auskennt, lässt den Blick zerstreut umherschweifen. Im
Ladeninnern werden Fossilien zu Amuletten und Schmuckstücken
weiterverarbeitet. Ein Mädchen an einer Schleifmaschine
klappt das Visier hoch, lächelt Dee einladend zu und macht
sich dann – erstaunt oder verwirrt über Dees vom
Wissenschaftler gesteuerte Reaktion – wieder an die Arbeit.
Der Geruch von Lack und Politur, Klebstoff und Schmiermittel weht
zusammen mit dem Kreischen des Karborundums
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