Die Mars-Stadt
Die Brücke steigt leicht an,
schwenkt in sanftem Bogen nach rechts. Dee schreitet furchtlos
aus; sie kennt sich aus auf dem hoch gelegenen Territorium derer,
die hier, in Ship City, als reich gelten.
Dee hegt kaum Zweifel, dass sie im Verlauf der nächsten
Stunde einen Menschen töten wird. Sie hat das noch nie getan
und sieht der Tat mit einer gewissen Neugier entgegen. Der Spion
und der Soldat verfügen natürlich über die
entsprechenden Fertigkeiten. Wie aus einem früheren Leben
(aus dem Leben, bevor sie aufgewacht ist) erinnert sie sich
jedoch an Gerüchte, wonach es ihr unmöglich sei, auf
diese besonderen Fertigkeiten zuzugreifen. Falls das System ihre Zugriffsrechte verändert hat… Sie weiß
es nicht, denn auch dies gehört zu einem Teil des
Betriebsystems, zu dem sie keinen Zugang hat. Sie erinnert sich
an Gespräche, die in ihrer Anwesenheit geführt wurden,
als wäre sie gar nicht da, Gespräche über die
potenziellen Gefahren, die von AIs in menschlicher Gestalt
ausgingen, und sie weiß, welch großen Wert die
Menschen auf Zugriffsrechte legen.
Sie hat jedoch nicht den geringsten Zweifel, dass Ax dazu
fähig sein wird. Ax ist ein Mensch, und Menschen brauchen
keine Sondererlaubnis. Dee fröstelt, jedoch nicht vor Angst
oder Erregung.
Die Tür ist eine glänzende, leicht konvex
gewölbte Stahlplatte, ein wenig zurückgesetzt im
synthetischen Felsgestein des Gebäudes. Dee bewundert ihr
verzerrtes Spiegelbild und transformiert es, indem sie ihre
Haltung verändert, während Ax ein paar Worte mit dem
Lautsprecher wechselt. Die Tür gleitet sanft beiseite, und
Ax und Dee treten ein. Die Eingangshalle hat nach innen
gewölbte Wände, und der Rechtsbogen des Bodens, der
weiter ins Gebäude hineinführt, setzt den Schwung der
Brücke fort. Die Halle wird von einem Oberlicht und von
hohen Fenstern in der Außenwand erhellt. Elektrische Lampen
und Schalen, die überfließen von Blättern und
Stängeln, Blumen und Gerüchen, hängen in
unterschiedlicher Höhe von der zehn Meter hohen Decke.
Die Tür schließt sich hinter ihnen. Dee blickt sich
kurz um und prüft, ob sich die Tür manuell von innen
öffnen lässt. Es sieht ganz danach aus, doch die
feineren Sinne des Spions haben sich eingeschaltet und verfolgen
für alle Fälle die Impulsmuster in den Wänden.
Ax’ Füße tappen, Dees Absätze klacken um
die Gangbiegung herum. Die davon abgehenden Holztüren sind
geschlossen. Als sie so weit gekommen sind, dass die
Eingangstür nicht mehr sichtbar ist, weitet sich der Gang zu
einem Treppenhaus. Ein paar Stufen die Wendeltreppe hoch erwartet
sie ein Mann. Er trägt einen mit Sternbildern bestickten
schwarzen Kimono. Das blonde Haar hat er sich aus der hohen Stirn
zurückgekämmt. Sein Gesicht ist schmal, die Lippen
dünn, die Wimpern sandfarben, sein Gesichtsausdruck
gelassen. Auf Dee wirken seine faltenlosen, gesunden
Gesichtszüge alt – er ist älter als sie oder Ax,
fast so alt wie Reid. Gleichwohl ist bei ihm eine elementare
Unreife spürbar und eine Grausamkeit, die ganz anders ist
als die kalte Rücksichtslosigkeit, die das Schlimmste war,
was in Reids unbeherrschtem Moment zum Vorschein kam –
selbst jetzt, im Rückblick. Dieser Mann ist anders als Reid,
anders als seine Freunde und Zufallsbekanntschaften. Noch kein
stämmiger Geschäftsmann, der sie bei einem Treffen je
begafft oder sie bei einer Party befingert hat, hat ihr je ein
solches Gefühl vermittelt wie der Blick, mit dem er sie
mustert.
Anderson Parris kommt die Treppe herunter und lächelt Ax
an.
»Hallo«, sagt er und ergreift Ax’
Hände. »Freut mich, dass Sie mit Ihrer interessanten
und wunderschönen Freundin gekommen sind.«
Dee löst einen Schnürverschluss an ihrem Hals und
nimmt den Umhang ab. Sie wirft ihn sich über den linken Arm,
wodurch die Handtasche verdeckt wird, und streckt matt die Rechte
vor.
»Erfreut, Sie kennen zu lernen, Anderson
Parris.«
Nach einem kurzen Moment der Verblüffung wird dem Mann
bewusst, dass sie von ihm erwartet, dass er ihr die Hand
küsst, und er tut es. Seine Finger sind kalt, seine Lippen
feucht. Als er den Kopf wieder hebt, wandert sein Blick von den
hochhackigen Stiefeln, vorbei an den schwarzen Lederleggings
unter dem schwarzen Spitzenrock, über die Leiter der
silbernen Schnallen und kleinen Schleifen auf dem schwarzen
Stäbchenkorsett aus Satin bis zu ihrem Hals, dessen mit
Stahlnägeln besetzter
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