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Die Mars-Stadt

Die Mars-Stadt

Titel: Die Mars-Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken MacLeod
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Er blieb stehen, wandte sich zu mir um.
    Ich lehnte mich ans Geländer. Mehrere hundert Fuß
in der Tiefe funkelte das Wasser wie gehämmertes Blei. Reid
zog eine Zigarette hervor, ließ sie fallen, hob sie auf und
zündete sie an.
    »Was soll ich dazu sagen?«, meinte er. Er breitete
schwankend die Arme aus, legte die Rechte auf die Brüstung.
»Es ist passiert, weshalb sollte ich es also abstreiten. Es
war meine Schuld, und es tut mir Leid.«
    »Ich verstehe«, sagte ich. »Mehr hast du
also nicht zu sagen.«
    »Du bist ein…« Er zog heftig an der
Zigarette, schirmte die Glut mit der Linken ab. »Du bist
ein braver Kerl, Jon. Sie hat dich verdient. Ich hab dir
übel mitgespielt. Ich hab deine… Gastfreundschaft
missbraucht. Keine Entschuldigung, ich will bloß sagen, es
war eine verfickte…«
    »Bloß eine verfickte…?«
    »… Leidenschaft, Mann, das ist das richtige
Wort.« Er lachte heiser. »Ich wünschte, ich
könnte sagen, dass es bloß ums Ficken ging.«
    Er erwiderte meinen Blick. Der Rauch in meinem Mund schmeckte
auf einmal widerlich. Ich schleuderte die rote Glut übers
Geländer und schaute zu, wie sie langsam in die Tiefe
fiel.
    »Aber das kann ich nicht«, fuhr er fort.
»Ich will nicht sagen, dass es nicht falsch gewesen
wäre, aber es steckte mehr dahinter. Einmal wollte ich sie
dazu bewegen, dich zu verlassen, stell dir vor. Aber sie wollte
nicht, und sie hatte Recht, und damit war die Sache zu Ende. Aus
und vorbei. Und ich kam drüber weg, und sie auch.«
    Von diesem Moment an wusste ich, dass ich fähig war,
jemanden zu ermorden. Eine Hand hatte er auf die Brüstung
gelegt, in der anderen hielt er noch die Zigarette. Er blickte
wieder in die Ferne. Ich hätte ihn bloß am Kragen und
am Gürtel zu packen brauchen, und er wäre übers
Geländer geflogen. Es wäre ganz leicht gewesen, und ich
hätte es tun können.
    Er wandte sich mir zu. »Also damals hat sie es dir
gesagt, stimmt’s?« In seinen Augen lag Bewunderung
und Schläue. »Denn da fing das mit dieser rechten
Scheiße an, mit diesem ganzen Zeug von den Kontras und der
Renamo, den osteuropäischen Emigranten und der Kuomintang
und der NTS. Es war klug von dir, die Absender mit alten
Kommunisten und Liberalen zu mischen, aber die Botschaft ist
trotzdem angekommen. Du kennst ein paar üble Burschen, und
sie wissen, wo ich wohne.« Er lachte heiser. »Ich
muss sagen, Jon, du hast mir richtig Angst gemacht.«
    Ich trat auf ihn zu und holte aus, um ihm einen Faustschlag
auf den Mund zu versetzen. Der Schlag war nicht schlecht –
der Boxunterricht in meiner Kindheit war nicht vergeblich gewesen
–, und er reagierte mit einem hoffnungslos langsamen wilden
Schwinger eines Jungen vom Lande.
    Sein Schlag aber traf und meiner nicht. Ich prallte gegen das
Geländer. Die Oberkante traf mich am Rippenansatz, und auf
einmal hing mein Oberkörper über die Brüstung, und
ich blickte geradewegs in die Tiefe. Und gleich darauf einen
unwirklichen Moment lang in die Höhe, während sich
meine Innereien umstülpten und das Universum ihnen auf eine
Kreisbahn folgte.
    Und dann war mir auf einmal übel. Ein mexikanisches
Essen, ein Dutzend Pints, zwei Whiskies, eine Portion Currychips
und der Teer eines Dutzends Silk Cuts und eines mexikanischen
Zigarillos ergossen sich durch meinen Mund und meine
Nasenlöcher auf Laufgänge und Leitern und weckten
schlafende Vögel auf, bevor alles miteinander mit
buchstäblich Übelkeit erregender Langsamkeit deutlich
sichtbar aufs Wasser hinunterfiel.
    »Alles in Ordnung?«
    Ich stieß mich vom Geländer ab.
    »Geht schon«, sagte ich. Ich schnaubte ein
Tacostück und einen Schleimklumpen aus meinem linken
Nasenloch auf die Finger, dann ballte ich die Fäuste, um
mich erneut auf ihn zu stürzen.
    Er riss die Augen auf, sah jedoch an mir vorbei. Bremsen
quietschten. Ein Lieferwagen hielt neben uns, auf dem Gehsteig,
nicht auf der Fahrbahn.
    Der Tür ging auf, und ein Mann in einem Overall beugte
sich heraus.
    »Na los, Jungs«, sagte er. »Wir haben euch
schon eine ganze Weile im Auge. Ihr seht so aus, als
bräuchtet ihr ein Taxi.«



 
9    Schalturteil
     
     
    Es ist früher Nachmittag, und die Armbanduhren piepen
fünfzehnmal. Dee folgt Ax über eine hohe, schmale
Brücke. Der Gehweg ist kaum einen Meter breit, die
Brüstung kaum einen Meter hoch. Hundert Meter tiefer liegen
die Dächer einer niedrigeren Ebene. Darüber ragen
höhere Türme auf.

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